Wer wusste in Israel von den Plänen der Hamas, den Süden des Landes zu überfallen und mehr als zweihundert Geiseln zu nehmen und nach Gaza zu verschleppen? Diese Frage beschäftigt derzeit viele in Israels Sicherheitsapparat.

Ein Geheimdienstdokument, das dem öffentlichen Sender Kan vorliegt und dessen Inhalt nun enthüllt wurde, zeigt, dass es sogar knapp drei Wochen vor dem 7. Oktober explizite Warnungen vor einem Hamas-Überfall auf Dörfer und Militärbasen im Süden Israels gab.

 

Die Warnung soll aus der Signal-Einheit des Militärgeheimdienstes stammen, also jener, die feindliche Kommunikation überwacht. Sie wurde laut dem Bericht an die zuständige Gaza-Division der Armee übermittelt. Dort prallten die Warnungen jedoch ab.

Warnung vor Geiselnahmen

Der Bericht der Geheimdienstler sagte in einigen Punkten erstaunlich klar voraus, was sich am 7. Oktober bewahrheiten sollte. Er spricht von rund 200 bis 250 Geiseln, darunter auch viele Zivilisten.

Bisher war man in Israel davon ausgegangen, dass die Hamas vom „Erfolg“ ihres Überfalls selbst überrascht war – und mit einer weit geringeren Anzahl an Geiseln gerechnet hatte als jenen 251 Soldaten und Zivilisten, die letztlich verschleppt wurden. Die nun enthüllten Pläne widerlegen diese Annahme.

Schon zuvor hatte es Berichte gegeben, die auf explizite Warnungen vor einem Hamas-Überfall hindeuteten – allerdings ohne genaue Abschätzung der Geiselzahl. So war der New York Times Ende 2023 ein Dokument zugespielt worden, das eine Art Drehbuch für die Hamas-Attacke enthielt. Es soll konkrete Planungen der Terrorgruppen auflisten und bereits im Winter 2022 auch Israels Armee zugänglich gewesen sein.

Konkretes Vorgehen war bekannt

Die konkreten Planungen laut diesem 40-seitigen Dokument sollen in vielen Details mit dem tatsächlichen Überfall am 7. Oktober 2023 übereinstimmen, berichtete das US-Blatt. So wurde darin beschrieben, wie Terroristen die massiv gesicherte Grenze nach Israel überwinden könnten. Mittels Drohnenangriffen auf Videoüberwachungen und Schnellschussanlagen und im Windschatten massiven Raketenfeuers sollten tausende Terroristen mit Paragleitern, Motorrädern und Pick-up-Trucks in israelisches Terrain eindringen. Genau so geschah es dann auch in den Morgenstunden des 7. Oktober.

Im Juli 2023, drei Monate vor dem folgenschweren Überfall, warnte eine Offizierin des Militärgeheimdienstes, dass die Hamas eine Serie von Trainings durchführe, die auf dem Überfall-Skript vom November 2022 basieren. Auch diese Warnung wurde ignoriert: Es handle sich um ein „imaginäres“ Szenario, für dessen Realisierung der Hamas die Ressourcen fehlten, hieß es.

Rücktritte im Militär

Die aktuelle Enthüllung verdeutlicht, dass die Armee zwar einen Überfall für möglich hielt, allerdings in weit geringerem Ausmaß. Anstatt auf tausende Eindringlinge war die Armee laut dem Bericht nur auf einige Dutzend Terroristen eingestellt, die an drei Punkten die Grenzbarriere durchbrechen würden. Am 7. Oktober waren es laut Schätzungen 3000, die an mehr als 30 Standorten in Israel eindrangen.

Der Chef der Gaza-Division, Avi Rosenfeld, erklärte vor zehn Tagen seinen Rücktritt. Es war der zweite solche Schritt nach dem Rückzug des Militärgeheimdienstchefs im April. Beide begründeten ihren Rückzug mit dem Versagen im Vorfeld des 7. Oktober.

Untersuchung erst nach dem Krieg

Für die Angehörigen der getöteten und verschleppten Soldaten ist ein Personalwechsel in der Armee jedoch nicht das Mittel der Wahl. Sie fordern eine staatliche Untersuchungskommission. Die Familienmitglieder der Späheinheit in der Nahal-Oz-Basis haben ein Forum gegründet, um diese Forderung politisch durchzusetzen. „Die, die hinter dem Versagen stecken, das zum schwersten Terrorangriff in Israels Geschichte führte, müssen zur Verantwortung gezogen werden“, erklärten sie.

Eine interne Untersuchung der Armee ist bereits im Gange, mit ersten Ergebnissen wird in zwei Wochen gerechnet. Eine staatliche Untersuchungskommission wurde hingegen immer noch nicht eingesetzt. Die Regierung unter Benjamin Netanjahu will das Kriegsende abwarten. Daher ist weiter unklar, ob auch der Generalstabschef und die politische Führung Israels von den konkreten Warnungen vor einem Hamas-Überfall wussten. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 19.6.2024)

Text: Standard.at

Bild: Radio Qfm.