Quelle: CKB-Anwälte Jessica Hamed
„Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestags,
sehr geehrte Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten,
mein Name ist Jessica Hamed, ich bin Rechtsanwältin und Hochschuldozentin.
Mit diesem offenen Brief wende ich mich im Hinblick auf die bevorstehende Abstimmung im Bundestag und Bundesrat über den Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Deutscher Bundestag Drucksache 19/23944) an Sie.
Die Pandemie stellt die gesamte Gesellschaft vor großen Herausforderungen, die nach meinem Dafürhalten nur gemeinschaftlich gelöst werden können. Aus diesem Grund bitte ich Sie, bei der Entscheidung im Bundestag und dem Bundesrat am Mittwoch, den 18.11.2020 gegen die Einführung des § 28a IfSG (Deutscher Bundestag Drucksache 19/23944) zu stimmen.
Ich sehe die immensen Schwierigkeiten für Politik, Gesetzgeber und Gesellschaft, die durch SARS-CoV-2 entstanden sind und weiter entstehen, als Herausforderung für unseren demokratischen Staat an. Es müssen Wege gefunden und Entscheidungen getroffen werden, die sich an den Leitlinien unseres Grundgesetzes – allem voran an der Menschenwürde – orientieren. Entscheidungen, die dazu führen sollten, dass die Belastungen für unser Gesundheitssystem und unsere Gesellschaft nicht zu groß werden.
Ich erlaube mir, bevor ich Ihnen darlege, warum es unverzeihlich wäre, dem Gesetzesentwurf zuzustimmen, mich und meine Beweggründe kurz vorzustellen.
1.
Mit neun Jahren hatte ich beschlossen, Rechtsanwältin zu werden. Ob als Klassen- oder Schülersprecherin, ob als AStA-Vorsitzende an der Universität oder im Rahmen antirassistischer Arbeit – ich habe mich von Kindesbeinen an für die Rechte derjenigen eingesetzt, die häufig zu wenig Gehör finden. Mich gesellschaftspolitisch einzubringen, ist für mich selbstverständlich, weshalb ich auch Mitglied einer Partei (SPD) bin. Der unbedingte und kompromisslose Glauben an die Werte der Bundesrepublik Deutschland, an die freiheitlich-demokratische Grundordnung und alledem was aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, begleitet mich von jeher. Nach zwei überdurchschnittlichen Prädikatsexamina, ehrenamtlicher Arbeit und Auslandserfahrung sowie jahrelangem Arbeiten in renommierten Wirtschaftskanzleien habe ich mich entschieden, einen wenig glamourösen Weg einzuschlagen und Strafverteidigerin zu werden. Warum? Weil es – zumindest bis Ende März 2020 – kaum eine Situation gab, in der der Staat tiefer in die Rechte seiner Bürger*innen eingreift, als im Rahmen von Strafrechtsverfahren.
Ich trete dafür ein, dass Menschen ein faires und rechtsstaatliches Verfahren erhalten. In dieser Funktion als Strafverteidigerin sah ich die sinnvollste Möglichkeit, meine Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Genau das treibt mich an. Der Gesellschaft, die es mir u.a. durch die Gewährung eines Stipendiums beim Evangelischen Studienwerk, dem Begabtenförderungswerk der evangelischen Kirchen, ermöglicht hat, zu studieren, etwas zurückzugeben und mich um sie verdient zu machen. Als Hochschuldozentin bin ich bemüht, die mir anvertrauten Studierenden neben fachlichen Inhalten auch darin zu bestärken, einen kritischen Blick zu entwickeln. Außerdem versuche ich ihnen näher zu bringen, dass wir als Jurist*innen dem Recht und dem Gesetz sowie den Menschen, die eine rechtliche Klärung ersuchen, dienen. So verstehe ich die gesellschaftliche Verantwortung von Jurist*innen.
Ihre Aufgabe ist es meines Erachtens, dem Wohle der Bevölkerung unter Wahrung der für uns verbindlichen verfassungsmäßigen Ordnung zu dienen, wobei ich an den besten Absichten Ihrerseits keine Zweifel hege.
Wenn Sie diesem Gesetzesentwurf jedoch zustimmen, entfernen Sie sich von Ihrer Aufgabe. Der Zweck, sehr geehrte Damen und Herren, heiligt nicht die Mittel.
Der Herausforderung, Mittel zu finden, die auf dem Boden unserer Verfassung stehen, muss sich der Gesetzgeber – und damit Sie alle – verantwortungsvoll und verantwortungsbewusst stellen. Mit diesem Gesetzesentwurf, dem so viele und tiefgreifende verfassungsrechtliche Bedenken begegnen, wird der Herausforderung ausgewichen und die notwendige Auseinandersetzung in der Tiefe und das Ringen um eine gute Lösung letztlich aufgeschoben.
2.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen bekannt ist, dass die Stellungnahmen der Einzelsachverständigen zu § 28a IfSG vernichtend ausgefallen sind. Ein Zitat aus der Stellungnahme der Einzelsachverständigen Dr. Andrea Kießling (Ruhr-Universität Bochum) möchte ich besonders hervorheben:
„Der geplante § 28a IfSG genügt den Vorgaben von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz nicht. Die Vorschrift lässt keinerlei Abwägung der grundrechtlich betroffenen Interessen erkennen, sondern will offenbar einseitig das bisherige Vorgehen während der Corona-Epidemie legitimieren. In dieser Form werden die Gerichte die Vorschrift höchstwahrscheinlich nicht als Rechtsgrundlage für die Corona-Schutzmaßnahmen akzeptieren.“
Seitens Legal Tribune Online wurde die beispielose Kritik der Sachverständigen gut zusammengefasst:
Und auch auf der Homepage des Deutschen Bundestags ist zu lesen: „Experten krisitieren Neufassung des Infektionsschutzgesetzes“
Jede*r der im Bundestag gehörten renommierten Rechtsexpert*innen hat erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzesvorhabens geäußert und von der Verabschiedung in dieser Form abgeraten. Vermutlich waren sich Jurist*innen noch nie so einig wie in diesem Fall.
Prof. Dr. Anika Klafki (Universität Jena) brachte es gut auf den Punkt:
„Es besteht aber kein Grund, nun in einem überhasteten Schnellschuss eine in vielerlei Hinsicht defizitäre Norm zu verabschieden, die mehr Schaden als Nutzen bringen könnte.“
Wer ein Gesetz verabschiedet, obwohl er*sie weiß – oder es zumindest billigend in Kauf nimmt –, dass es verfassungswidrig ist, ist kein*e Demokrat*in.
Das gilt umso mehr in diesem Fall, in dem mit diesem Gesetz so gut wie alle Grundrechte suspendiert werden können. Es hat eine derart weitreichende Wirkung, dass selbst kleinere Bedenken ausreichen müssten, dagegen zu stimmen.
Hier hingegen sind es, wie Sie alle wissen, keine nur kleineren Bedenken.
Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn Sie dieser Gesetzesänderung zustimmen, dann haben Sie sich von rechtsstaatlichen Grundprinzipien verabschiedet und würden mein Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie in einer so tiefgehenden Krise wie der aktuellen zutiefst erschüttern.
Der Entwurf genügt evident nicht dem Bestimmtheitsgrundsatz und das Anknüpfen einzig an einen Inzidenzwert entbehrt jeder Logik.
Zu letzterem wurde ebenfalls ein Experte, Prof. Dr. Matthias Schrappe, im Ausschuss für Gesundheit am 28.10.2020 gehört. Er kam zu dem Ergebnis, dass sich mit den Testergebnissen kein aussagekräftiger Grenzwert darstellen lasse und es daher nicht möglich sei, politische Entscheidungen hiermit zu begründen:
Es dürfte darüber hinaus nachvollziehbar sein, dass der im Frühjahr 2020 festgelegte Inzidenzwert, der einzig auf absolute Zahlen abstellt, neben den allgemeinen Kritikpunkten (vgl. Ausführungen von Schrappe), auch deshalb keine sinnvolle Zahl ist, da weder die Teststrategie im Frühjahr mit der heutigen vergleichbar ist, noch die Anzahl der durchgeführten Tests. Ferner sollten auch die positiven Tests und die Anzahl derjenigen, die mit oder an dem neuartigen Coronavirus verstorben sind, jeweils ins Verhältnis gesetzt werden. Aus dieser Gegenüberstellung ergäbe sich dann der Faktor, um den die aktuell angenommenen Grenzwerte (35 und 50 positive Fälle je 100.000 Einwohner*innen) sinnvollerweise ins Verhältnis zu setzen wären. Ohne dieses Korrelativ ist ein Grenzwert nutzlos.
Ferner ist bislang nicht nachvollziehbar begründet, warum eine Überlastung des Gesundheitssystems ausschließlich durch eine absolute Nachverfolgbarkeit jedes bekannten Falls verhindert werden kann. Schließlich rückt auch das Robert Koch-Institut zunehmend von dieser These ab und hat erst kürzlich die aktuelle Teststrategie dahingehend abgeändert, dass selbst symptomatische Personen nur noch unter Berücksichtigung differenzialdiagnostischer Aspekte getestet werden sollen.
Während der ersten Welle im Frühjahr wurde deutschlandweit deutlich weniger getestet als aktuell. Während dort zur Hochzeit (KW 20) 432.666 Tests in einer Woche durchgeführt wurden, sind es derzeit seit Wochen über 1 Million Tests pro Woche, und damit mehr als doppelt so viele. In der KW 45 waren es 1.565.418 Tests, mithin mehr als dreimal so viele wie in der KW 20. In den kritischen Wochen im Frühjahr gab es in der Regel sogar weniger als 400 000 wöchentliche Tests, sodass man sagen kann, dass inzwischen knapp viermal so viele Tests durchgeführt werden wie damals.
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-06-17-de.pdf?__blob=publicationFile; https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-11-de.pdf?__blob=publicationFile
Bereits dadurch wird deutlich, wie wenig Aussagekraft der reine Inzidenzwert ohne weitere Korrelative besitzt.
3.
Es gibt, meine sehr geehrten Damen und Herren Bundestagsabgeordnete und Ministerpräsident*innen, keinen einzigen guten Grund, dieses Gesetz zu verabschieden.
Schließlich ist es unzweifelhaft möglich, ein verfassungsmäßiges Gesetz zu dieser Thematik zu schaffen. Hierfür standen viele Monate zur Verfügung. Ich habe kein Verständnis dafür, dass nunmehr ein Gesetz in einem solchen Tempo „durchgedrückt“ werden soll. Das haben sich die Richter*innen sicherlich nicht vorgestellt, wenn sie – im Übrigen schon seit Anfang April (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 09. April 2020 – 1 S 925/20 –, juris) – anmahnen, dass es für die tiefen Grundrechtseingriffe einer parlamentarischen Legitimation bedürfe.
a.
Ein sinnvoller Vorschlag wäre es, dass jede Coronaschutzverordnung mit einem Parlamentsvorbehalt versehen wird. Dieser könnte so ausgestaltet werden, dass die jeweilige Landesregierung zwar eine Verordnung rasch erlassen kann, dass diese aber innerhalb von beispielsweise 5 bis 7 Tage nach Erlass sowie alle weitere 10 bis 14 Tage vom Landesparlament bestätigt werden muss, andernfalls tritt sie wieder außer Kraft.
Das würde eine öffentlich nachvollziehbare Debatte ermöglichen und den Landesregierungen ein hohes Maß an Flexibilität bei der Gestaltung der Maßnahmen einräumen. Gleichzeitig wären die Regierenden so auch angehalten, ihre Erwägungsprozesse nachvollziehbar darzulegen.
Der damit einhergehende „Begründungszwang“ filtert mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Vorschläge heraus, die offensichtlich von vornherein zur Infektionseindämmung ungeeignet sind. Damit birgt er auch die Chance, dass Maßnahmen vermehrt unter wissenschaftlichen Aspekten überprüft werden.
Ein derartiger „Begründungszwang“ führt auch zur Sicherstellung eines rechtsstaatlichen Verfahrens. In der Vergangenheit stellte sich schließlich die fehlende Begründung als ein weiteres wesentliches rechtliches Problem der Coronaschutzverordnungen dar.
Wie tiefgreifend die Problematik ist, haben wir im Rahmen eines unserer Normenkontrollverfahren in Bayern selbst erleben müssen. Dort wurde seitens des Gesundheitsministeriums am 22.07.2020 mitgeteilt, dass eine Akte nicht vorhanden sei.
https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-coronavirus-ausgangsbeschraenkungen-klage-1.5027566; https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000338JHJH916-Bayerischer-Verwaltungsgerichtshof.pdf
So oder so ähnlich sieht die Lage auch in anderen Bundesländern aus, in denen ich abstrakte Normenkontrollverfahren oder Feststellungsklagen für meine Mandantschaft führe. Am Rande sei zu diesem Gesichtspunkt angemerkt, dass der Verfassungsgerichtshof Österreich jüngst in diesem Zusammenhang im Rahmen von sechs Entscheidungen für eine Reihe von COVID-19-Maßnahmen deren Rechtswidrigkeit festgestellt und dies letztlich damit begründet hat, dass die Entscheidungsfindung der Behörde (mangels ausreichender Dokumentation) – des Gesundheitsministers – nicht nachvollziehbar gewesen sei.
https://www.vfgh.gv.at/medien/Entscheidungen_Oktober-Session.php
b.
Weiter wäre es zu befürworten, dass ein Gesetzentwurf die Einrichtung von externen Expert*innengruppen vorsieht, deren Besetzung nach Parteienproporz erfolgen sollte.
aa.
Die Regierenden haben es in den vergangenen Monaten nämlich versäumt, die Bürger*innen zu Kooperationspartner*innen auf Augenhöhe zu machen. Statt Aufklärung gab es Angst:
Statt Appellen an das Verantwortungsgefühl gab es Zwang. Dieser spiegelte sich auch in der Ausdrucksweise manchen Politiker*in in kaum erträglicher Weise wider:
So war in Berchtesgaden etwa vom dortigen Landrat im Hinblick auf dem von ihm veranlassten Lockdown zu hören, dass dort die „Daumenschrauben“ nochmal angezogen werden müssten.
Und die Bundeskanzlerin sprach bereits im Sommer davon, dass bei steigenden Zahlen die „Zügel angezogen“ werden müssten.
https://www.tagesschau.de/inland/coronavirus-deutschland-221.html
bb.
Mit großer Sorge beobachte ich seit Wochen und Monate eine immer tiefergehende Spaltung der Gesellschaft.
Der Geist, der in letzter Zeit durch die Gesellschaft weht, ist befremdlich und bedroht meines Erachtens die Errungenschaften unserer pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaft.
Richter*innen werden verdächtigt, „Corona-Leugner“ zu sein, weil sie aus Sicht der Politik missliebige Entscheidungen treffen, wie es jüngst die Richter*innen des OVG Bautzen zu erdulden hatten:
„’Im OVG sitzen Richter aus der Redaktion des Sächsischen Verwaltungsblatts, das Desinformation zu #Covid19 veröffentlicht‚, schrieb ein Journalist des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv auf Twitter. Damit war der Verdacht im Raum: Gibt es bei den zuständigen Richtern am OVG Bautzen, die die chaotische Querdenker-Demo in Leipzig erlaubten, selbst eine Corona-skeptische Einstellung? Und vor allem: Lässt sich das aus der Veröffentlichung eines Fachaufsatzes in den Sächsischen Verwaltungsblättern ablesen?“
Politiker*innen maßen sich an, Entscheidungen der Gerichte allgemein zu kritisieren, so als wären die Gerichte lediglich da, um ihre politischen Entscheidungen mitzutragen, wie etwa am 03.05.2020 Helge Braun:
„Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) sagte im WELT AM SONNTAG-Interview: ‚Ich verstehe und akzeptiere jedes einzelne Urteil. Aber ich empfinde es schon als Herausforderung, wenn sich Gerichte auf den Gleichheitsgrundsatz berufen, um einzelne unserer Maßnahmen aufzuheben oder zu modifizieren.'“
Missliebige Kritiker*innen werden strafversetzt (Hervorhebungen durch die Unterzeichnerin):
„Pürner selbst sieht seine Abordnung ganz anders. Der 53-jährige Mediziner spricht von einer ‚Strafversetzung‚. Der Grund ist aus seiner Sicht, dass er sich in den vergangenen Monaten immer wieder kritisch mit der Anti-Corona-Politik von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) auseinandergesetzt hat – in behördeninternen Runden, in Stellungnahmen für Zeitungen und den Rundfunk, aber auch in den sozialen Medien. Deshalb werde nun an ihm ein ‚Exempel statuiert‚, sagt Pürner. ‚Meine Abordnung ist ein Signal an alle anderen Amtsärzte in Bayern, dass sie fachlich auf keinen Fall andere Einschätzungen als die offizielle politische Linie äußern dürfen.‚“
https://www.sueddeutsche.de/bayern/aichach-amtsarzt-puerner-kritik-versetzung-1.5104412
cc.
All dies zeigt wie problematisch die derzeitige Situation und wie wichtig es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, Entscheidungen breit zu diskutieren.
Aktuell sind gemäßigte Stimmen selten geworden und man beobachtet eine zunehmende Radikalisierung beider Seiten. Diejenigen, die immer strengere Maßnahmen wollen und diejenigen, die keine Maßnahmen für erforderlich halten, stehen sich immer unversöhnlicher gegenüber.
Die vorgeschlagene externe Expert*innengruppe hat meines Erachtens neben dem Parlamentsvorbehalt das Potential, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und Vertrauen zu schaffen.
Eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung kann nicht unter Zurücklassung eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung bewältigt werden. Nutzen Sie die Chance, einen Runden Tisch zu initiieren.
4.
Sehr geehrte Bundestagsabgeordnete, nach meinem Dafürhalten haben Sie in den letzten Monaten die Bevölkerung im Allgemeinen und die Judikative im Besonderen mit den Problemen der Pandemie alleine gelassen.
Zu Beginn hieß es, die Krise sei die Stunde der Exekutive. Sie haben sich unter diesem Eindruck ohne Gegenwehr das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Das mag für die ersten wenigen Wochen noch akzeptabel erscheinen. Aus der Stunde der Exekutive sind allerdings inzwischen Monate der Exekutive geworden. Hierfür gibt es keine Legitimation.
Dennoch sind Sie aktuell im Begriff, erneut das Heft aus der Hand zu geben.
Wenn Sie diesem Gesetzesentwurf zustimmen, entziehen Sie sich zum wiederholten Male Ihrer Verantwortung, Ziele der Pandemiebekämpfung und Voraussetzungen für Grundrechtseingriffe zu definieren.
Immer mehr Menschen rufen in Deutschland die Gerichte an, weil sie ihre Grundrechte verletzt sehen. Dass immer häufiger Gerichte entscheiden müssen, ist kein Zeichen eines funktionierenden Rechtsstaats, sondern vielmehr Ausdruck dafür, dass vieles in Schieflage geraten ist.
Mit diesem Gesetzesentwurf überantworten Sie ein weiteres Mal letztlich den Gerichten die gesamtgesellschaftliche Verantwortung.
Oder – vorgelagert – an meine Kolleg*innen und mich.
Denn – vielleicht ist Ihnen das nicht bewusst – zumindest im März/April, waren sehr wenige Kolleg*innen überhaupt bereit, Mandate anzunehmen, die sich gegen die Coronaschutzverordnungen richteten. Vor den Oberverwaltungsgerichten besteht indes Anwaltszwang. Damit waren Menschen zum Teil faktisch rechtsschutzlos gestellt.
Woher ich das weiß? Ich erhalte seit Ende März, wohl, da ich öffentlich in einer überregionalen Zeitung meine juristische Einschätzung, dass § 28 IfSG keine ausreichende Rechtsgrundlage für den Lockdown darstellt, teilte, jeden Tag zahlreiche Emails mit Mandatsanfragen oder allgemeinen Hilfsgesuchen. Von vielen Menschen haben ich erfahren müssen, dass sie in ihrer Region niemanden gefunden hätten, der sich ihrer Angelegenheit annimmt. So kam es, dass ich als Mainzer Strafverteidigerin deutschlandweit im Verwaltungsrecht vertrete. Weil es schlicht zu wenige andere Kolleg*innen machen bzw. gemacht haben.
Halten Sie es für sinnvoll, dass in unseren Verfahren entschieden wird, ob ein Lockdown komplett aufgehoben wird? Drei Richter*innen sollen diese Entscheidung treffen?
Zur Beantwortung dieser Frage haben wir Sie, sehr geehrte Bundestagsabgeordnete, als unsere gewählten Vertreter*innen bestimmt. Sie tragen die Verantwortung, die sich widerstreitenden Grundrechte in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Diesem Anspruch wird der hier diskutierte Gesetzesentwurf allerdings nicht einmal im Ansatz gerecht.
Dass Sie den Organen der Rechtspflege diese Verantwortung schon so lange aufbürden, ist beschämend. Sie wissen genauso gut wie ich, dass dieser Gesetzesentwurf die rechtlichen und tatsächlichen Probleme der Coronakrise nicht lösen wird. Es wird noch mehr Klagen geben, denn das Gesetz bringt vieles, aber keine Rechtssicherheit.
Mit Zustimmung meiner Mandant*innen veröffentlichen ich nahezu alle Schriftsätze: https://www.ckb-anwaelte.de/aktuelle-corona-verfahren/ aus meinen verschiedensten „Corona-Verfahren“, insbesondere im Hinblick auf abstrakte Normenkontrollen und Eilverfahren in unterschiedlicher Ausgestaltung in inzwischen sechs Bundesländern, um juristische Aufklärungsarbeit zu leisten und um die beispiellosen, ungerechtfertigten Grundrechtseingriffe, die es je in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, zu dokumentieren.
So empört ich manches Mal über die Entscheidungen der Gerichte bin, so sehr sehe ich aber auch in all den Monaten, in denen ich mich intensiv, tagtäglich mit den neusten tatsächlichen und rechtlichen Entwicklungen auseinandergesetzt habe, dass es letztlich falsch ist, lediglich den Richter*innen Vorhalte zu machen.
Weil Sie sich bislang geweigert haben, Verantwortung zu übernehmen, fühlen sich die Richter*innen meiner Beobachtung nach offenbar verpflichtet, gesamtgesellschaftliche Erwägungen anzustellen und vernachlässigen so ihre eigentliche Aufgabe, der Überwachung der Rechtstaatlichkeit. Vor diesem Hintergrund wird noch mehrheitlich von den Gerichten in den Eilverfahren angenommen, dass §§ 28,32 IfSG für den aktuellen Lockdown gerade noch ausreichend sei.
Das – mit Verlaub – nehme ich keine*r Richter*in mehr ab.
Der Staatsrechtslehrer Prof. Dr. Uwe Volkmann hat dies unlängst in einem Aufsatz gut auf den Punkt gebracht:
„Aber die bestehenden Regelungen der §§ 28 und 32 IfSG bleiben dahinter längst in einer Weise zurück, die nicht nur diese oder jene Einzelausprägung des verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalts betrifft, sondern das, was hier als sein politischer Kern bezeichnet ist, das heißt seine rechtsstaatliche, grundrechtliche und demokratische Dimension insgesamt.
Für eine Übergangszeit, in der man über die tatsächliche Gefährlichkeit des Virus ebenso wenig wusste wie über die Wege seiner Ausbreitung und die angemessenen Mittel zur Eindämmung des Infektionsgeschehens, mochte man deshalb noch beide Augen zudrücken und den Handelnden auch in der Wahl ihrer Formen und Mittel erst einmal freie Hand lassen. Aber diese Phase ist lange vorbei, der vermeintliche Übergangs- mittlerweile zu einem Dauerzustand geworden, dessen Ende nicht absehbar ist. Auch für die Gerichte wäre es deshalb an der Zeit, den zu Beginn der Krise in Bezug auf einzelne Maßnahmen wie Versammlungsverbote oder Betriebsschließungen gelegentlich angebrachten, dann aber offenbar wieder in Vergessenheit geratenen Vorbehalt einer zeitlichen Begrenzung des Rückgriffs auf die Generalklausel nun auch zu aktivieren und ihre Kontrollaufgabe auch in diesem Punkt ernst zu nehmen.
Dass die Entscheidungen derzeit allesamt noch im Eilverfahren ergehen und unter dessen spezifischen Bedingungen getroffen werden, ist kein Gegenargument: Die zu klärenden Probleme sind juristisch nicht wirklich kompliziert, die Argumente sind alle längst bekannt, bei ihrer Gewichtung wird man in einem Jahr nicht klüger als nach einigen Tagen sorgsamen Überlegens. Und auch der bekannte Topos der „summarischen Prüfung“ dispensiert nicht von der Beantwortung der anstehenden Rechtsfragen. Die einzige Frage, um die es letztlich geht, ist, ob die nach wie vor erheblichen Einschränkungen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens des ganzen Landes auf eine rechtsstaatlichen, grundrechtlichen und demokratischen Erfordernissen genügende Ermächtigungsgrundlage gestützt werden oder ob dafür weiter die bloße Fassade einer solchen ausreichen soll, wie sie derzeit in §§ 28, 32 IfSG enthalten ist. Versucht man dahinter und auf ihren Inhalt zu blicken, so sieht man: nichts.“
Volkmann, NJW 2020, 3153 ff. beck-online.
Durch Ihre Untätigkeit, sehr geehrte Bundestagsabgeordnete, zwingen Sie die zur Entscheidung berufenen Richter*innen zu Erwägungen, die ihnen nicht zustehen.
Und in letzter Konsequenz bringen Sie so die Gerichte dazu, den Rechtsstaat – wenn auch in bester Absicht – zu beschädigen. Ein unerträglicher Zustand.
Übernehmen Sie Verantwortung. Lehnen Sie diesen Gesetzesvorschlag ab und erarbeiten Sie unter Einbeziehung von Rechtsexpert*innen einen neuen.
Mit freundlichen Grüßen
Jessica Hamed
Rechtsanwältin“
Ich möchte auch wieder die Gelegenheit nutzen, mich bei all denjenigen von Ihnen, die mir immer wieder interessante Artikel oder Hinweise zusenden und damit unsere Arbeit unterstützen, bedanken. Ich schaffe es leider nicht immer, mich dafür in angemessener Weise – oder überhaupt – zu bedanken; aber bitte seien Sie gewiss, dass ich mich über jegliche Zuschrift freue und schon viele wertvolle Hinweise für meine Verfahren genutzt habe.
Wie immer dürfen sowohl diese Email als auch die hier aufgeführten Links gerne geteilt werden. Bitte geben Sie mir Bescheid, falls Sie kein „Corona-Update“ mehr von mir erhalten möchten.
Abschließend weise ich daraufhin, dass wir in den vergangenen Monaten viele Verfahren geführt haben, ich bemühe mich, einigermaßen zeitnah die aktuellen Schriftsätze und Beschlüsse zu veröffentlichen, das gelingt aber leider nur mit zeitlicher Verzögerung. Hier: https://www.ckb-anwaelte.de/aktuelle-corona-verfahren/ können Sie sich auf dem Laufenden halten.
Aktuell haben wir zwei Eilanträge gegen Bestimmungen der aktuellen Coronaschutzverordnungen in Rheinland-Pfalz: https://www.ckb-anwaelte.de/download/VG-Mainz-anonym.pdf; https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000928JHJH1075-Verwaltungsgericht%20Mainz.pdf (sechs Fitnessstudiobetreiberinnen) und in Nordrhein-Westfalen: https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000931JHJH1073-Oberverwaltungsgericht-LandNordrhein-Westfalen.pdf (Outdoor-Sportanbieter) vor Gericht anhängig; die Entscheidungen stehen noch aus.
Mit freundlichen Grüßen
Jessica Hamed
Rechtsanwältin
Bild: Pixabay – Ezequiel_Octaviano
Allerbesten Dank Frau Hamed für Ihr ehrenhaftes Verhalten und Einbringen gegen dieses vernichtende Gesetz. Hoffentlich werden sich die Abgeordneten ihrer Verantwortung für unsere Demokratie bewusst!
mach weiter ich spende