Das Grundgesetz ist keine Schönwetterlektüre

Das Grundgesetz ist keine Schönwetterlektüre, mit welcher die Nation sich schmückt, so lange die Lage ruhig und überschaubar ist. Es ist der rettende Mast, den wir besonders im Sturm keinesfalls loslassen dürfen. Gerät er angesichts der Corona-Krise ins Wanken?

Diese Frage stellt kein Geringerer als Gerhard Strate im Magazin Cicero am 3 Januar

Als Anlass für seinen Bericht nimmt der die Impfpflicht oder deren Weg durch die Hintertür.

 

„Kaum sind die ersten Tranchen eines Impfstoffs gegen COVID-19 erhältlich, rückt ein neues Thema in den Vordergrund“

Werden künftig Konzertveranstalter, Fluggesellschaften oder Restaurantbetreiber dazu übergehen, Nichtgeimpfte von ihren Angeboten auszuschließen und damit eine Impfpflicht durch die Hintertür begründen?

Die Bundesregierung bemüht sich, diese Befürchtung zu zerstreuen, doch das will nicht recht gelingen: 

„Keiner sollte Sonderrechte einfordern, bis alle die Chance zur Impfung hatten“, verkündete Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), aber hält eine nur für Geimpfte geöffnete Pizzeria immerhin für „möglich“.

Tatsächlich liegt er damit juristisch nicht ganz falsch: 

Die im Rahmen des Privatrechts garantierte Vertragsfreiheit gibt Anbietern die Möglichkeit, ihre Geschäftsbedingungen individuell zu definieren. Die hierfür existierenden Grenzen zieht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), landläufig auch als „Antidiskriminierungsgesetz“ bekannt. Ein Diskriminierungsverbot zugunsten von Nichtgeimpften findet sich in dem Gesetzeswerk jedoch bislang nicht, was schleunigst geändert werden sollte.

Übergriffige Fragen nach Gesundheitsdaten

Dass Sonderrechte für Geimpfte in Ordnung gehen, sobald die Impfung flächendeckend verfügbar ist, scheint für den Gesundheitsminister eine ausgemachte Sache zu sein. Ist ein Impfzwang politisch nicht durchsetzbar, muss es die richtige „Haltung“ vieler kleiner Restaurantbetreiber eben richten.

Ob diese Strategie funktionieren wird, ist jedoch zweifelhaft. Nach Monaten des geschäftlichen Einbruchs dürfte kaum ein Wirt Interesse daran haben, die wiederkehrende Kundschaft durch übergriffige Fragen nach Gesundheitsdaten endgültig zu verscheuchen. Vor solchem Aktionismus bewahrt ihn schon der Mitbewerber, der nur wenige Straßen weiter gezielt auch um ungeimpfte Gäste wirbt, kostenloser Willkommensdrink für jeden inklusive, der ihn nicht auch noch mit einem Impfpass nervt.

Auch Konzertveranstalter, Fluglinien und Kreuzfahrtunternehmen können sich solcher – jeglicher Hysterie abholden – Logik der Marktwirtschaft nicht entziehen, sofern sie die Monate des erzwungenen wirtschaftlichen Niedergangs denn überlebt haben.

Der staatliche Zugriff auf den menschlichen Körper

Handelt es sich um ein Unternehmen mit Monopolcharakter oder um öffentliche Einrichtungen, haben Nichtgeimpfte aktuell keine Nachteile zu befürchten, da Anbieter wie die Deutsche Bahn oder die Post dem Kontrahierungszwang ebenso unterliegen wie Schulen oder Behörden. Dies kann in Einzelfällen auch für kleinere Unternehmen gelten, wenn sie in einem größeren Umkreis die einzigen Anbieter in ihrem Bereich sind. Deshalb dürfen sie einem Nichtgeimpften die Leistung nicht verweigern, wenn sie sich dabei nicht auf eine gesetzliche Impfpflicht berufen können.

Dass diese allerdings trotz gegenteiliger Beteuerungen schneller kommen könnte, als manchem lieb ist, zeigt sich an der erst seit 1. März 2020 geltenden Masernimpfpflicht, mit der die rote Linie des staatlichen Zugriffs auf den menschlichen Körper bereits erfolgreich überschritten wurde. Dass dies ein Slippery Slope werden könnte, ein rutschiger Hang, war schon damals zu vermuten.

Ein geistiges Klima, in dem alles möglich erscheint

Das Grundgesetz ist keine Schönwetterlektüre, mit welcher die Nation sich schmückt, so lange die Lage ruhig und überschaubar ist. Es ist vielmehr der rettende Mast, den wir besonders im Sturm keinesfalls loslassen dürfen. Dies gilt für das Recht auf körperliche Unversehrtheit ebenso wie für das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit oder für die Berufsfreiheit.

Dass Grundrechtsträger nur noch sein sollte, wer willkürlich von einer hysterischen Tagespolitik diktierte Bedingungen erfüllt, widerspricht in eklatanter Weise dem Geist des Grundgesetzes. Leider wirken auch große Medien daran mit, die kulturellen Errungenschaften unseres Rechtsstaats bedenkenlos zu schleifen, indem sie ein geistiges Klima erschaffen, in dem alles möglich erscheint.

Ein Beispiel dafür ist die Kolumne „Impfpflicht! Was denn sonst?“, die Nikolaus Blome für den SPIEGEL verfasst hat. Dort heißt es: „Ich hingegen möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“

Auch der Artikel „Fliegen nur noch mit Impfpass!“ von Alan Posener, der am 12. Dezember auf ZEIT Online erschien, schlägt in diese Kerbe. Unter dem Motto „es wird ja niemand gezwungen, nach Mallorca zu fliegen oder ein Ed-Sheeran-Konzert zu besuchen“, fordert der Autor „die Pflicht, zumindest bei nicht notwendigen Aktivitäten den Nachweis einer Impfung vorzulegen, und die Pflicht der Veranstalter, diesen Nachweis zu verlangen“. Eine solche Nachweispflicht werde als Anreiz dienen, „der auch wenigstens die nicht ganz hartgesottenen Impfgegner dazu bringen könnte, es mit dem Pikser doch noch zu probieren“.

Die euphorischen Antworten eines totalitätsbegabten Publikums lassen nicht lange auf sich warten. In einem Kommentar zum Artikel heißt es: „Anders wird es nicht gehen. Wenn künftig in allen Kinos, Kneipen, Hotels, Flughäfen, Einkaufszentren und Zügen der Corona-Impfnachweis gefordert wird, werden alle sich gut überlegen, ob sie kooperieren oder sich aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließen wollen.“

Dass ein gesellschaftliches Leben in diesem finsteren Umfeld manchem sowieso nicht mehr erstrebenswert erscheinen mag: geschenkt. Der Slippery Slope entwickelt sich unaufhaltsam zu einem Erdrutsch, der die Freiheit unter sich begräbt. Denn wieder einmal ist der Boden getränkt mit totalitären Fantasien, die, gepaart mit dem Wunsch nach empörungsgetriebenen Klickzahlen, im gefühlten Sekundentakt in die Welt entlassen werden.

Schritt für Schritt machen derartige Gedankenspiele ihrem Publikum schmackhaft, dass es Dinge geben könnte, die der individuellen Souveränität der menschlichen Persönlichkeit übergeordnet sein sollten. Was für ein entsetzlicher Irrtum. Wie lange das Grundgesetz einem derartigen Zeitgeist noch wird standhalten können, ist vollkommen ungewiss.

Gerhard Strate ist nahezu seit 40 Jahren als Rechtsanwalt tätig und gilt als einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Er vertrat unter anderem Monika Böttcher, resp. Monika Weimar und Gustel Mollath vor Gericht. Er publiziert einigen juristischen Fachmedien und ist seit 2007 Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Die Universität Rostock zeichnete ihn 2003 mit der Ehrendoktorwürde für sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement aus.

Quelle: Cicero.de

Bild: Unsplash – Markus Spiske

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