Der große Neustart

Ein neuer Podcast von Gustav Viktor Śmigielski auf Apolut.net

Überlassen wir den Wandel nicht den Eliten, die diesen durch ihr verantwortungsloses Agieren erst notwendig machten.

Jeder Mensch, der halbwegs bei Bewusstsein ist, hat schon einmal etwas vom „Great Reset“ gehört, dem Plan der herrschenden Klasse, eine noch effizientere und für den Planeten angenehmere Form menschlicher Existenz zu erschaffen — so würde es die PR-Abteilung des Weltwirtschaftsforums (WEF) formulieren.

An so einem edlen Ziel ist nichts auszusetzen und der Autor glaubt, dass die Elite tatsächlich besorgt über den Zustand des Planeten ist. Er bezweifelt jedoch, dass diese sich jemals eingestehen wird, dass im großen Maße ihr eigenes Handeln diesen Zustand hervorgebracht hat. Obwohl sie die Macht hatte, die Geschicke der Menschheit in die richtige Richtung zu lenken, tat sie es nicht, und es wäre naiv zu glauben, sie täte es dieses Mal. Die Veränderung muss aus der Gesellschaft kommen.

„Du wirst nichts besitzen und du wirst glücklich sein.“

Im Werbevideo des WEF mit acht Vorhersagen/Voraussagen für das Jahr 2030 steht diese „Prophezeiung“ an erster Stelle.

Ich erachte Eigentum als eine Illusion und habe mit dieser Aussage kein Problem, doch in diesem Video wird gleich im zweiten Satz eine Behauptung aufgestellt, welche die angestrebte Gesellschaftsform zumindest zum Teil offenbart: Alles, was ich haben will, werde ich mieten müssen. Mieten? Von Wem? Wer wird dieses Etwas besitzen, das ich mieten soll?

Wenn wir uns die Geschichte der Menschheit anschauen, werden wir nur sehr selten von Fällen lesen oder hören, in denen mächtige und materiell wohlhabende Menschen ihren Besitz freiwillig dem Allgemeinwohl spendeten. Und so drängt sich der Verdacht auf, dass diese Form von Werbung nur sehr unwahrscheinlich in Monaco zu sehen sein wird und sie sehr wahrscheinlich auch nicht an die dortigen Besitzer von Hundert-und-mehr-Meter-Jachten gerichtet ist.

Sie ist vielmehr an den Teil der Bevölkerung gerichtet, der noch etwas besitzt, im kapitalistischen Hamsterrad gefangen ist und ständig mit der Angst lebt, noch das wenige zu verlieren, das es besitzt.

Um etwas Licht ins Dunkle zu bringen, müssen wir uns nur die propagierten Strukturen genauer ansehen. Soll es eine Hierarchie geben? Wie viele Stufen hat diese Hierarchie? Wie wird sie organisiert? Streng hierarchisch organisierte Gesellschaften werden immer wieder genau dieselben Ergebnisse liefern wie bisher. Sowohl in kapitalistisch als auch sozialistisch organisierten Gesellschaften entstanden bisher immer Hierarchien der Macht, welche auch gleich den Keim ihres eigenen Untergangs bargen.

Das WEF propagiert weiterhin eine hoch hierarchisierte Gesellschaft, in der die mächtigsten Akteure entscheiden, wie sich die Gesellschaft entwickeln soll — und zwar fernab demokratischer Prozesse. Es soll zementiert werden, was sowieso schon stattfindet.

Die Klasse der Eigentümer will ihren Einfluss über die ihnen gehörenden Konzerne ausbauen und ihn quasi legal werden lassen. Dafür lässt sie neue verwirrende Begriffe wie „Multistakeholder-Governance“ erfinden, welche nett klingen, aber ihren Einfluss verschleiern sollen. Der Konsens, welcher eigentlich durch demokratische Prozesse entstehen soll, wird damit ausgehebelt. Anstatt dass „die Mächtigen“ eine Stimme zur Wahl haben, wie sie jeder andere Mensch innerhalb einer Bevölkerung auch hat, hieven sie sich direkt auf Augenhöhe von ganzen Staaten und üben dort direkten Einfluss auf Entwicklungsprozesse einer Gesellschaft aus.

Die Politik haben sie schon längst in der Tasche, nur sind der Politzirkus sowie die Manipulation der öffentlichen Meinung hochgradig aufwendig. Man möchte sich eines großen Teils davon entledigen. Die im Moment herrschende Indoktrination sowie Konditionierung von Menschen ist so weit fortgeschritten, dass sie nur noch mit geringen Mitteln aufrechterhalten werden muss.

Ein Großteil der Bevölkerung ist ständig der Willkür anderer Menschen ausgesetzt und findet keinen Weg, sich dagegen zu wehren. Er wird in die Arbeit getrieben, um anschließend überhöhte Lebenshaltungskosten zu zahlen und ein gesellschaftliches System aufrechtzuerhalten, dass ihm nicht wohlgesinnt ist. Es scheint, also könnte der Mensch seine Situation nur dadurch verbessern, indem er mitmacht. Das pyramidale System dahinter ist einfach erklärt: Umso höher man aufsteigt, desto weniger Menschen stehen über einem, die einen beherrschen und Willkür ausüben.

Geldregen / Könige der Neuzeit

Es braucht kein großes ökonomisches oder soziologisches Wissen, um zu begreifen, dass Miteigentümerschaft von Produktionsgütern für die Mehrheit vorteilhafter wäre, anstatt ein einfaches Gehalt zu bekommen. Wären sie Miteigentümer, würden sie wohl kaum auf die Idee kommen, Profite in Form von Dividenden an betriebsfremde und am Produktionsprozess nicht teilnehmende Personen auszuschütten. Folgendes Beispiel soll das verdeutlichen:

Seit 2011, also direkt nach Abschluss der Agenda 2010, sind die jährlichen Dividenden der BMW-Aktie auf einem stabil hohen Niveau, mit einem Höhepunkt im Jahr 2018. Knapp 50 Prozent der Aktien gehören der Familie Quandt, was ihnen in den vergangenen Jahren hohe Summen an Geld beschert hat, im Jahr 2017 waren es etwa eine Milliarde Euro. Doch was bedeutet das? Geld ist ein Potenzial, ein Anspruch und zwar einer, den jemand an die produzierende Gesellschaft stellt. Eine Milliarde Euro wären ein Anspruch auf 113.122.171 Arbeitsstunden in Höhe des Mindestlohns von 2017 oder ein Anspruch von immerhin noch 50 Millionen Arbeitsstunden beim Durchschnittslohn aus demselben Jahr. Mit diesem Durchschnittslohn müsste ein Mensch circa 25.000 Jahre für diese Summe arbeiten. Das ist grotesk.

Anstatt nun eine Milliarde Euro Profit zu erwirtschaften, könnte das Unternehmen circa 20.000 Arbeitsplätze mit einem Jahresgehalt von 50.000 Euro schaffen — Pi mal Daumen. Von so einem Gehalt könnte eine vierköpfige Familie in Deutschland umfangreich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen — das wären rund 80.000 Menschen. Achtzigtausend Menschen, die zum Beispiel nicht mehr auf staatliche Transferleistungen angewiesen wären. Die im Unternehmen zu verrichtende Arbeit könnte auf mehr Menschen verteilt werden, eine 20-Stunden-Woche wäre bei BMW zum Greifen nahe und eine Form von Arbeit wäre möglich, von der man keinen Urlaub mehr braucht.

Unsere Gesellschaft entscheidet sich aber, solch hohe Werte einzelnen Personen zu übertragen und um diesen Wahnsinn irgendwie zu rechtfertigen, behaupten diese ganz ungeniert, dass sie das Geld doch reinvestieren und dadurch Arbeitsplätze erhalten und neue erschaffen werden. Übersetzt bedeutet das: „Für das Geld, das ihr erwirtschaftet habt, sollt ihr gefälligst arbeiten gehen.“

Dabei ist jeder von uns ein kleiner Investor, jeder von uns hat das Potenzial mit einer guten Idee Arbeitsplätze zu schaffen oder zumindest sich selbst eine sinnvolle sowie die Gesellschaft bereichernde Beschäftigung zu geben. Jeder gibt Geld aus und erschafft Nachfrage, aus der neue Arbeitsplätze entstehen können. Dabei müssen wir uns nichts vormachen und brauchen auch nicht die Arbeitswelt zu romantisieren. Es gibt Arbeit, die gemacht werden muss, obwohl sie unangenehm ist und aus sich wiederholenden Tätigkeiten besteht. Aber genau diese könnten wir uns viel angenehmer gestalten, wenn wir aufhören, uns den Profitzwang aufzuerlegen, sowie versuchen, allen Werten einen in Geldeinheiten ausgedrückten Preis zu geben.

Wie könnten wir sonst leben?

In einer Gesellschaft, die sich dazu entscheidet, erschaffene Werte breiter zu verteilen, würden wir wahrscheinlich sehen, dass sich die Produktion von großen und luxuriösen Gütern hin zu mehr kleineren und weniger luxuriösen verschieben würde. Um in der Autobranche zu bleiben: Mercedes Benz würde weniger S-Klassen und dafür mehr C-Klassen produzieren und auch verkaufen. Eine weise Gesellschaft hingegen würde erkennen, dass sich der ganze Aufwand gar nicht lohnt, die vielen Pkw zu produzieren, um die Städte damit vollzustellen und sie dort langsam verrotten zu lassen. Zumindest in größeren Städten ist nämlich das offensichtlich Realität.

Eine solche Gesellschaft hätte den städtischen Nahverkehr so organisiert, dass der Privat-Pkw überflüssig wird. Das würde ihr Arbeit ersparen, weil der Aufwand geringer ist, einen massentauglichen sowie angenehmen Nahverkehr zu organisieren, anstatt Millionen von Autos zu bauen, welche die Städte verstopfen und qualitativ so schlecht hergestellt sind, dass sie innerhalb ihrer Nutzungsdauer endlosen Wartungsintervallen unterliegen. Dabei beschreiben wir nur einen Bereich menschlichen Bedürfnisses, nämlich das nach Mobilität. Doch das Konzept zieht sich durch alle Bereiche der Gesellschaft hindurch. Dasselbe Problem in anderer Verkleidung erkennen wir in der Energie-, Nahrungs-, Immobilien- sowie Gesundheitsbranche.

In jeder dieser Branchen formt die Gier nach mehr, ausgedrückt durch den Profit- sowie Wachstumszwang, erheblich mehr die Produktions- sowie Distributionsprozesse unserer Gesellschaft als Logik, Integrität und Symbiose.

Das Zeitalter der Robotik hat begonnen, was uns erlaubt, noch produktiver zu werden und dadurch Arbeitszeiten zu mindern oder noch mehr zu produzieren — zumindest in der Theorie. In der Praxis stehen wir vor einem Problem, welches nicht erst seit Anbeginn der Industrialisierung besteht und außer von Karl Marx noch von vielen anderen Ökonomen beschrieben wurde. Es besagt vereinfacht ausgedrückt, dass der Mensch irgendwie für die Güter bezahlen „muss“, welche die Maschinen bauen und ihm die Arbeit abnehmen, für die er zuvor bezahlt wurde. Wären diese Produktionsgüter Gemeinschaftseigentum, bestünde der einzige Aufwand im Bauen und Warten dieser und die Menschen könnten so viel direkter in den Genuss der Früchte ihrer Arbeit gelangen.

Aber sie gehören ihnen nicht und meistens gehören sie nicht einmal denen, die diese mit ihren eigenen Händen und Ideen erbaut haben, sondern sie gehören einer kleinen Minderheit, die sie mithilfe der herrschenden Gesetzte ihr Eigentum nennen kann, und nur für Gegenleistungen zur Verfügung stellt. Und die Mehrheit sieht keinen anderen Weg, als sich dessen zu fügen.

Den Great Reset als Chance verstehen

Der „Great Reset“ ist neuer Wein in alten Schläuchen, und er ist nicht unausweichlich. Doch wir müssen uns die Frage stellen, wofür wir einstehen, wofür wir „kämpfen“ wollen. Widerstand leisten, um dieses kurz vor dem Zerfall stehende System zu erhalten? Das kann doch wohl niemandes Ernst sein. Die Veränderungen finden schon statt und es wäre nicht weise, dagegen anzukämpfen, sondern stattdessen, wie in gewissen Kampfsportarten, den Schwung des „Gegners“ zu nutzen, um ihn in eine andere Richtung zu lenken. Dabei könnte sich unser technologischer Fortschritt als Vorteil erweisen.

Die in den vergangenen zwei Dekaden rasant voranschreitende Vernetzung beherbergt ein unvorhersehbares und vor allem unbeherrschbares Potenzial. Es reicht ein kleiner Funke, eine neue Idee, und unsere Gesellschaftsordnung kippt. Ein erstes Modell — ein Vorläufer — einer solchen Idee, ist schon da, nämlich die „Democracy-App“! Dort stimmen die Menschen über dieselben Beschlüsse ab wie die Abgeordneten im Bundestag und schon jetzt sieht man erhebliche Diskrepanzen im Abstimmungsverhalten. Sobald mehrere Millionen Bürger an Abstimmungen teilnehmen, wird man sich die Frage stellen müssen, welche Abstimmungsergebnisse wirklich repräsentativ sind. 736 Stimmen aus dem Parlament oder mehrere Millionen Stimmen aus dem Volk? Die Antwort liegt klar auf der Hand.

Des Weiteren wird sich früher oder später die Frage stellen, worüber wir überhaupt abstimmen. Bei der App stimmen wir im Moment nur über Fragestellungen ab, die vorher formuliert und festgesetzt wurden — was sehr einengend ist. Interessant wird es, wenn wir anfangen den Rahmen, innerhalb welchem wir uns bewegen, an sich neuzudenken und neu zu formen. Das heißt, wenn wir anfangen, selbst die Fragestellungen zu formulieren, über die abgestimmt werden soll, und welche die Richtung für die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft vorgeben. Das Tor für neue Narrative und neue Weltbilder wird eröffnet.

Ich hoffe, wir Menschen erkennen bald, dass ein Großteil unserer Probleme in den Hierarchien selbst liegt, die wir ständig erschaffen. Hierarchien sind die eine Konstante, welche wir durch alle Gesellschafformen hindurch nicht wirklich neu gedacht haben, und ich verorte auch dort die Lösung unseres Problems. Sowohl die Selbsterhöhung als auch die Selbsterniedrigung sind beides Seiten derselben Medaille, wobei die Medaille selbst die Idee der Unebenbürtigkeit repräsentiert. Der große Vorteil kapitalistisch organisierten Gesellschaften gegenüber den sozialistisch/kommunistischen war die Selbstorganisation. Denken wir diesen Gedanken weiter, könnten wir zur Annahme gelangen, dass wir das Prinzip der Selbstorganisation weiter ausbauen sollten, um zu schauen, ob wir dadurch nicht noch effektiver werden und eine noch bessere Gesellschaft erschaffen.

Wir können dabei nicht die Klasse der Herrschenden darum bitten, dass sie uns das ermöglicht, denn sie werden es nicht erlauben, dass wir die Stützpfeiler ihrer Macht untergraben. Am leichtesten entziehen wir den Mächtigen die Macht, indem wir sie nicht mehr anerkennen. Um das zu bewerkstelligen, muss sich jedoch aus der Gesellschaft heraus eine alternative Idee für unsere Organisation herauskristallisieren, welche die kritische Masse erzeugt, sie aneinanderbindet, sie vereinigt und ihr erlaubt, die neue Idee zu manifestieren.

Der zugehörige Originalbeitrag erschien zuerst am 14. Mai 2022 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse.

Quelle: Apolut.net

Bild: Der grosse Neustart piqsels.com-id-fvgmy I

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