Die Front- und Fahnenflüchtlinge der Ukraine..

Die Ukraine erhöht den Druck auf die westlichen Fluchtzielländer, wehrfähige und der Fahnenflucht beschuldigte Ukrainer wieder auszuliefern, da an der Front das „Kanonenfutter“ ausgeht.

Die Aufregung über die Ansage vom 1. September 2023 aus dem ukrainischen Parlament, demnächst alle im Ausland aufhältigen wehrfähigen Männer heim ins Land zu holen, war in deutschen Medien kaum zu spüren. Und das, obwohl sie von einem der einflussreichsten Politiker in der Werchowna Rada kam, dem Fraktionschef der Regierungspartei „Diener des Volkes“ und engstem Vertrauten des Präsidenten. Dawid Arachamija forderte von Europa nicht weniger als die Auslieferung aller ukrainischen Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren. Die Begründung: Sie seien allesamt fahnenflüchtig und illegal ausgereist.

Der Grund für die Heimholaktion ukrainischer Männer besteht einerseits in den sich leerenden Schützengräben, die dringend einer Auffüllung bedürfen, und andererseits in der Erkenntnis, dass wohl hunderttausende Wehrpflichtige für viel Geld falsche Musterungsbescheide erschlichen haben. Das liegt zwar in der Natur einer extremen Klassengesellschaft wie der ukrainischen und entspricht auch ihren von Korruption durchtränkten staatlichen Institutionen, aber die schiere Not am Mann im Schützengraben lässt jetzt diese Strukturen aufbrechen.

Selenskyj persönlich hat dafür den Startschuss gegeben, indem er Mitte August 2023 alle Regionschefs der ukrainischen Einberufungsämter entlassen hat; die umtriebigsten von ihnen wurden sogleich verhaftet. So zum Beispiel der Chef des Militärberufungsamtes in Odessa, Jewhen Borissow. Ihm wirft der Staatsanwalt illegale Bereicherung in Höhe von 4,5 Millionen Euro vor. Für den Stempel „untauglich“ schieben die Reichen in der Ukraine im Durchschnitt 8.000 bis 9.000 Euro unter dem Bürotisch des Amtes durch; für einen solchen Betrag muss ein gewöhnlicher Arbeiter ein halbes Jahr lang roboten. Aufgeflogen ist die Korruption im Wehrkreis Odessa, weil Borissows Mutter, eine einfache Frau, für 3,7 Millionen Euro eine Villa in Spanien erworben hat.

Im Inland lebende Männer, die sich dem Soldatensein entziehen wollen, werden mittels Streifungen auf öffentlichen Plätzen in ukrainischen Städten eingefangen und dem Militär übergeben. Bei der Jagd nach ins Ausland geflüchteten Wehrpflichtigen waren die ukrainischen Behörden bisher nicht besonders erfolgreich. Die Statistik weist 20.000 Aufgriffe an den Grenzen aus, wovon 6.000 mit gefälschten Papieren unterwegs waren. Bei geschätzten 650.000 ukrainischen waffenfähigen Männern, die in Europa registriert sind, ist die bisherige „Fangquote“ sehr gering. Weshalb nun andere, härtere Zeiten auf die Männer, aber auch auf die Staaten, in denen sie sich aufhalten, zukommen.

Abschiebung von Flüchtlingen, wie soll das gehen?

In Ländern wie Deutschland oder Polen, wo sich die meisten ukrainischen Männer aufhalten — das deutsche Bundesinnenministerium verzeichnete im ersten Jahr seit dem russischen Einmarsch 163.000 wehrfähige Ukrainer in seinen Listen, in Polen befinden sich laut ukrainischen Angaben 80.000 —, ist die Rechtslage eigentlich klar.

Man kann nicht für ein Delikt in ein Drittland abgeschoben werden, das im eigenen Land nicht strafbar ist; umso weniger, als die Ukrainer hier im Westen als Flüchtlinge willkommen geheißen wurden. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter als das rechtliche Regelwerk.

Berlin, Warschau und all die anderen EU-Regierungen stehen fest an der Seite Selenskyjs. Deshalb hat man ja die Tore für Kriegsflüchtlinge so weit geöffnet, dass — laut Eurostat — per 29. August 2023 1,1 Million ukrainische Flüchtlinge in Deutschland und 960.000 in Polen gemeldet sind, jeweils ein Zehntel davon Männer. Diese Open-Door-Politik hatte ja gerade den Zweck, Frauen und Kindern aus den Kriegsgebieten eine sichere Bleibe zu bieten, damit die Männer „ungestört“ kämpfen können. Damals gab man vor, nichts von der weit verbreiteten Korruption zu wissen, über die sich die ukrainische Jeunesse dorée von allem freikaufen konnte, was ihr nicht behagte.

Mit der Ansage aus Kiew, ins Ausland geflohene Männer als Deserteure zu behandeln, ändert sich die Wahrnehmung auf den Status „Flüchtling“ auch im Westen. Laut der polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita könnte Warschau der Aufforderung aus dem ukrainischen Parlament nachkommen, und Flüchtlinge als Deserteure abschieben. Wenn ein internationaler Haftbefehl aus der Ukraine vorliegt, so der polnische Polizeisprecher Mariusz Ciarka, „nehmen wir eine solche Person fest, informieren die Staatsanwaltschaft, und das Gericht entscheidet über die Auslieferung“.

Als rechtliche Krücke wird den ersten so vom Flüchtling zum Deserteur gemachten Männern vorgeworfen, Menschenschmuggel betrieben zu haben, indem sie zum Beispiel einem Freund bei der Einreise geholfen haben.

„Polen hat damit begonnen, ukrainische Bürger, die in Menschenschmuggel verwickelt waren, an die Ukraine auszuliefern. Polen und andere EU-Länder könnten mit ukrainischen Anträgen auf Auslieferung von Männern überschwemmt werden, die das Land dank Bestechungsgeldern verlassen haben. Einige Ukrainer werden bereits an die Dienste am Dnjepr ausgeliefert“, heißt es dazu in der Rzeczpospolita vom 4. September.

Wie sich Kiew die Heimholung Zigtausender ukrainischer Männer technisch vorstellt, erklärt der für nationale Sicherheit in der Werchowna Rada zuständige Abgeordnete Fedir Venislavsky. Ihm zufolge ist es rechtlich machbar, den normalen Auslieferungsmechanismus zu nutzen, um Männer in die Ukraine zurückzubringen, die mit gekauften Zertifikaten des militärischen Nachrichtendienstes ins Ausland gegangen sind. „Ein solcher Mechanismus ist möglich, wenn eine Person ein Zertifikat gekauft hat, mit dem sie illegal die Staatsgrenze mit falschen Dokumenten überquerte“, erklärt er gegenüber der Presse. Die auf gefälschten Dokumenten beruhende Einreiseerlaubnis in die Europäische Union sei ein legitimer Grund für den Auslieferungsantrag, so die ukrainische Lesart.

Ob dies auch im Westen — in Deutschland, Polen oder Österreich — so gesehen wird und demnächst der Begriff „Deserteur“ statt „Flüchtling“ die Titelzeilen der Medien prägen wird, darauf darf man gespannt sein.

Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass dem so sein könnte. Das Wording beginnt sich zu ändern. Die Frankfurter Rundschau titelte bereits am 5. September 2023: „Fahnenflucht im Ukraine-Krieg“, Welt-TV stellt am selben Tag fest: „Massen-Fahnenflucht in die EU!“ und lässt den deutschen Generalleutnant a.D. Roland Kather ausführen: „Was nützt (der Ukraine) das beste moderne Material, wenn die Menschen ausgehen?“ Noch stellen die politisch Verantwortlichen in Deutschland und Österreich klar, dass männliche ukrainische Flüchtlinge nicht als Kanonenfutter in die Heimat abgeschoben werden. Doch der mediale Druck nimmt zu.

Auch die ukrainischen Behörden erhöhen die Schlagzahl. Im Internet kursieren erste Videos von Ukrainern, die in Deutschland eine Bleibe gefunden haben, und sich jetzt plötzlich mit einem Drohbrief aus ihrem Wehrkreisamt konfrontiert sehen. Darin werden sie aufgefordert, sich binnen zwei Wochen bei der heimatlichen Stellungskommission zu melden. Widrigenfalls wird die zwangsweise Abschiebung aus der Europäischen Union betrieben. Wie immer eine solche bewerkstelligt werden soll oder kann, der Druck von Seiten Kiews ist enorm. Denn sollten die angeschriebenen Männer — und das könnten hunderttausende sein — sich dem Einberufungsbefehl widersetzen, wird ihre Rückkehr in die Heimat sie wohl zuerst ins Gefängnis bringen.

Die russische Seite hat auf die ukrainischen Zwangsmaßnahmen bereits reagiert; und zwar in Person von Wiktor Medwedtschuk. Der Ukrainer, der seit fast einem Jahr in Moskau Unterschlupf gefunden hat, war der Führer der größten ukrainischen Oppositionspartei, bis diese — wie alle anderen auch — verboten wurde. Nach mehreren Monaten im Gefängnis, während denen er nach eigenen Angaben schwer gefoltert worden ist, übersiedelte er im Zuge eines Gefangenenaustausches nach Moskau. Nun meldet er sich von dort und ruft seine ukrainischen Landsleute im Westen auf, nach Russland zu kommen, anstatt der Zwangsmobilisierung Folge zu leisten. „Kommen Sie nach Russland, von hier werden Sie nicht ausgeliefert“, schreibt er auf seinem Kanal, um süffisant hinzuzufügen: „Die ukrainischen Behörden versuchen weiterhin, die Ukrainer mitsamt ihren Gebieten nach Russland zu drängen, und das gelingt gut.“

Wenn Medwetschuk dann noch hinzufügt, dass es ein Menschenrecht sei, „Pazifist zu sein und kriegsfeindliche Ansichten“ zu haben, dann wird auch der instrumentelle Charakter der Debatte auf Seiten Russlands klar. Denn dort wurden erst unlängst mehrere kriegsfeindliche Bewegungen wie beispielsweise „War Resisters‘ International“ oder der „Internationale Versöhnungsbund“ als „ausländische Agenten“ eingestuft, was ihre Tätigkeit so gut wie verunmöglicht.

Viele russische Männer, die sich im Zuge der Teilmobilisierung dem Wehrdienst durch Flucht entzogen haben, sind nach Kasachstan, in die Türkei oder nach Serbien gegangen. Deutschland hat ihnen den Weg versperrt. In den ersten eineinhalb Jahren nach dem russischen Einmarsch wurde gerade einmal 83 Russen im wehrfähigen Alter Asyl in Deutschland gewährt, 138 Anträge waren abschlägig beschieden worden. „Aktives bekunden gegen die Kriegsführung“, so das deutsche Innenministerium bereits am 11. Mai 2022, „muss auch ein Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung sein“. Mit anderen Worten: Nicht in den Krieg ziehen zu wollen, genügt nicht; Berlin will nur wirklichen Kreml-Hassern den Fronteinsatz ersparen.

Was bleibt von der Genfer Flüchtlingskonvention?

Soviel vorweg: Das 1954 in Kraft getretene „Abkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen“ (GFK) wurde von Anfang an — nebst zweifellos vorhandenen humanitären Aspekten — instrumentell gehandhabt. Damals benutzte der politische Westen es gegen die kommunistischen Staaten, indem er vor allem gut ausgebildeten Kräften eine Chance auf ein neues Leben in der kapitalistischen Freiheit schmackhaft machte. Das war auch der Grund, warum die Länder des „Ostblocks“, allen voran die DDR und die Sowjetunion, die Konvention ablehnten. Berlin-Ost nahm im Jahr 1968 eigene Asylregeln in die Verfassung auf. In der Zwischenzeit hat die absolute Mehrheit der Staatenwelt zumindest eines der zwei Genfer Flüchtlingsprotokolle unterzeichnet. Nicht akzeptiert sind die Asylregeln von Indien, Pakistan, Iran, Indonesien, Burma und ein paar anderen Staaten.

Auch ist es wichtig, mit zwei weit verbreiteten Missverständnissen bezüglich der GFK aufzuräumen. Die Konvention gewährt kein allgemeines Recht auf Asyl, vergibt also keine Einreiserechte von Verfolgten, sondern kodifiziert das Recht im Asylverfahren.

Als Flüchtling anerkannt können Personen aufgrund politischer, religiöser, nationaler und rassischer Verfolgung werden, Flucht aus einem Kriegsgebiet ist definitiv kein Asylgrund.

Dass der Umgang im Westen insbesondere mit Flüchtlingen aus Kriegsgebieten geopolitischen Kriterien und keinesfalls humanitären folgt, zeigte sich sowohl während des jugoslawischen Zerfallsprozesses in den 1990er Jahren als auch im großen Wanderungsjahr 2015.

Im Sommer 1992, als der bosnische Bürgerkrieg zwischen den Volksgruppen der Muslime, der Serben und der Kroaten tobte, sortierten die kroatischen Behörden flüchtende Muslime an der Grenze sorgfältig aus. Frauen, Kinder und alte Männer durften in Richtung Nordwesten weiterreisen, Männer im wehrfähigen Alter schickten die kroatischen Grenzer zurück. Sie sollten gegen die bosnischen Serben kämpfen.

Anders im Jahr 2015, als sich hunderttausende Syrer auf den Weg in Richtung Österreich, Deutschland und Skandinavien machten. Es waren zum überwiegenden Teil junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren, die sich durch Merkels Willkommensgruß Anfang September aufgefordert fühlten, die lange Wanderung auf sich zu nehmen. So gut wie alle diese Männer hätten im Bürgerkriegsland Syrien der Einberufung zum Militär folgen müssen. Doch das war nicht im Sinne der deutschen Regierung.

Mit dem „Wir schaffen das“ zeigte die deutsche Kanzlerin nicht nur humanitäres Gewissen, sondern zugleich auch politisches Kalkül. Jeder aufgenommene junge Syrer — und es waren hunderttausende — fehlte Baschar al Assad im Kampf gegen die großteils islamistische Opposition.

In den 1990er Jahren hinderte man muslimische Männer an der Flucht aus dem Krieg, weil sie als Soldaten gegen Serbien gebraucht wurden. 2015 lockte man syrische Wehrpflichtige nach Deutschland, um damit den Machthaber in Damaskus zu schwächen. Man darf gespannt sein, wie in den kommenden Wochen und Monaten mit den ukrainischen Männern auf europäischem Boden verfahren wird. Flüchtling oder Deserteur?

Quelle: Manova.news

Podcast: Apolut.net

Bilder: Pixabay  tislas

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