Aufgrund von Informationen aus erster Hand warnt der ungarische Ministerpräsident vor den kommenden Ereignissen in der Ukraine.
In den nächsten zwei Monaten könne es an den ukrainischen Fronten noch mehr Tote geben als bisher, so Viktor Orbán. Um dies zu verhindern, müsse die Europäische Union einen eigenen Plan zur Lösung des Konflikts vorlegen.
Die vom Wahlkampf absorbierten USA seien derzeit nicht in der Lage, die Situation zu kontrollieren, betonte Orbán in einem durchgesickerten Brief an EU-Ratspräsident Charles Michel.
Orbán äußerte sich zu dem Thema Anfang dieser Woche auch in einem Interview mit der „Bild“ und anderen Axel-Springer-Medien in Budapest.
„Ich hatte die Gelegenheit, sowohl mit dem ukrainischen als auch mit dem russischen Präsidenten zu sprechen. Und glauben Sie mir, die nächsten zwei, drei Monate werden viel brutaler sein, als wir denken“, so Orbán. Deshalb sei „jetzt der richtige Zeitpunkt“, um „von der Kriegspolitik zu einer Friedenspolitik“ zu kommen.
Zum Auftakt der ungarischen Ratspräsidentschaft besuchte Orbán in den vergangenen zehn Tagen Kiew, Moskau und Peking. Derzeit hält er sich zum NATO-Gipfel in Washington, D.C. auf. Dort wolle er sich auch über direkte Kommunikationskanäle über die Positionen der Parteien informieren, die für einen Friedensprozess notwendig seien. Sein Stabschef schloss nicht aus, dass er dort nicht nur US-Präsident Joe Biden, sondern auch den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump treffen könnte.
Orbán hat seine Reisen nicht vorher mit der EU abgesprochen, was ihm heftige Kritik einbrachte. Er hat aber wie vereinbart den EU-Mitgliedern von seinen Erfahrungen berichtet.
Was steht im Brief an Charles Michel?
Nach seiner Reise nach Kiew und Moskau schickte Orbán von Aserbaidschan aus einen nicht öffentlichen Brief an Michel und die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten.
Der Brief, der die Erfahrungen der Gespräche mit Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin zusammenfasst, wurde der Rechercheeinheit Systema von „Radio Free Europe/Radio Liberty“ von einem EU-Beamten zugespielt, der seinen Namen nicht nennen wollte. Die Echtheit des Schreibens wurde von zwei weiteren EU-Beamten bestätigt.
In seinem Brief erläutert Orbán die bereits bekannte ukrainische Position. Gleichzeitig geht er auf seine Gespräche mit Putin ein. Der Ministerpräsident stellte in seinem Schreiben klar, dass er nicht im Namen der Europäischen Union in die Ukraine und nach Russland gereist sei. Es sei auch nicht um Friedensverhandlungen gegangen.
Sein Ziel sei es gewesen, aus erster Hand Informationen über die Positionen der Kriegsparteien zu erhalten. Diese wolle er an die Spitzen von EU und NATO weitergeben.
In dem Brief heißt es, die russischen Behörden seien zuversichtlich, dass „die Zeit nicht auf der Seite der Ukraine, sondern auf der Seite der russischen Streitkräfte steht“.
„Der russische Präsident ist überrascht, dass der ukrainische Präsident den vorläufigen Waffenstillstand abgelehnt hat“, schreibt Orbán. Er sei überrascht, weil er die Zahl der gefallenen Soldaten auf ukrainischer Seite auf monatlich 40.000 bis 50.000 schätze.
Beide Seiten lehnten einen Waffenstillstand im Wesentlichen mit der Begründung ab, die jeweils andere Seite werde die Zeit nutzen, um ihre Truppen zu verlegen und zu verstärken. In dem Brief stellt Orbán jedoch fest, dass Putin die Möglichkeit eines Waffenstillstands nicht völlig abgelehnt habe und bereit sei, ihn in Erwägung zu ziehen, wenn er nicht mit Truppenbewegungen in der Ukraine verbunden sei.
Orbán: Die Parteien sind zu Friedensgesprächen bereit
Sowohl Kiew als auch Moskau seien zu Friedensgesprächen bereit, so Orbán. Dies werde auch dadurch bestätigt, dass Selenskyj nach dem Friedensgipfel in der Schweiz von der Notwendigkeit gesprochen habe, die russische Führung zu dem nächsten Treffen einzuladen.
Putin habe es vermieden, die Frage zu beantworten, was er von Selenskyjs Friedensplan und dem Schweizer Treffen selbst halte, so Orbán. Gleichzeitig sprach aber Putin wiederholt den Entwurf eines Sicherheitsabkommens von Istanbul an. Dies halte er nach wie vor für einen wichtigen Ausgangspunkt, wie der russische TV-Sender „Current Time TV“ berichtete. Insbesondere Punkt 5, in dem es um internationale Garantien und militärische Unterstützung für die neutrale Ukraine im Falle eines Angriffs gehe.
Laut Putin sei das auch als „Friedenspapier“ bezeichnete Dokument im März 2022 in Istanbul ausgearbeitet und vom Kiewer Chefunterhändler unterschrieben worden. Putin zufolge trägt das Dokument den Titel „Vertrag über die ständige Neutralität und Sicherheitsgarantien für die Ukraine“. Aus dem Entwurf gehe hervor, dass die Ukraine „permanente Neutralität“ in ihrer Verfassung verankern müsse. Nicht nur Russland, sondern auch die USA, China, Großbritannien und Frankreich seien dabei als Garanten aufgezählt.
Dem Schreiben von Orbán zufolge wurde bei den Gesprächen in Moskau auch ein anderes Dokument, der chinesisch-brasilianische Friedensplan, hervorgehoben. Orbán erwähnte nur, dass die Idee von der russischen Seite geprüft werde.
Orbán erklärt, die Konfliktparteien seien zu Gesprächen bereit, wenn beide anwesend seien. Er fasst seine Erfahrung mit den Worten zusammen: „Wenn es uns nicht gelingt, diesen Verlauf [des Krieges] einzudämmen oder zu stoppen, dann werden wir in den nächsten zwei Monaten mehr dramatische Verluste und militärische Vorfälle an den Frontlinien erleben als je zuvor.“ Einen Angriff Russlands auf NATO-Mitgliedstaaten hält Orbán jedoch nach eigener Aussage für ausgeschlossen.