Christian Drosten und der Marderhund
Je dringender der Verdacht, dass das Corona-Virus aus einem Labor in Wuhan stammt, desto kreativer werden die Ausreden. Die Regierung in Peking und ihr freundlich gesonnene Wissenschaftler und Journalisten haben einen neuen Verdächtigen für den Ursprung aus dem Hut gezaubert. Christian Drosten ist ganz begeistert.
Das amerikanische FBI hält es mittlerweile für „wahrscheinlich“, dass das SARS-CoV-2-Virus aus einem chinesischen Labor stammt. So sieht es auch das amerikanische Energieministerium, das für die Aufsicht über Labore zuständig ist. Das waren die Nachrichten der letzten Wochen. Jetzt läuft der Konter. Wie in einer Krimiparodie haben die Regierung in Peking und ihr freundlich gesonnene Wissenschaftler und Journalisten plötzlich, kurz vor Ende des Romans, einen neuen Verdächtigen aus dem Hut gezaubert. Und da Pekings Medien eine große Reichweite haben, gilt es nun als halbamtliche Gewissheit: Der Mörder ist immer der Marderhund.
Der Marderhund (Nyctereutes procyonoides), heißt es in Brehms Tierleben, „erinnert in seinem Gesamtgepräge mehr an Marder als an Hunde. Der gestreckte, hinten verdickte Leib ruht auf niederen schwächlichen Beinen, der Kopf ist kurz, schmal und spitz, der Schwanz sehr kurz, beinahe stummelhaft und buschig, das Ohr kurz, breit, abgerundet und fast ganz in dem sehr reichen Pelz versteckt, die Färbung marder-, nicht aber hundepelzartig, mit Ausnahme eines ziemlich breiten über die Schultern nach den Vorderläufen ziehenden, dunkelbraunen Bandes und der ebenso aussehenden Läufe auch sehr veränderlich, bald heller, bald dunkler“.
Es gibt ihn auch bei uns. Der Naturschutzbund NABU berichtet:
„Trotz der vielen in freier Wildbahn lebenden Marderhunde bekommt man nur äußerst selten einen von ihnen zu Gesicht. Sie leben im Verborgenen, meiden den Menschen und gehen erst in der Dämmerung auf Futtersuche.“
Ähnlich wie viele Bewohner unserer Hauptstadt also.
„Der Marderhund“, erklärt Zeit online, „ist weder ein richtiger Marder noch ein richtiger Hund, sondern am ehesten ein Fuchs. Für einige Virologen aber ist er vor allem eines: sehr verdächtig.“ Viele würden das auch über einige Virologen sagen. Ein Fall für die Vorurteilsforschung. Was hat der Marderhund gemacht? Er soll, heißt es, genetische Fingerabdrücke hinterlassen haben, als er 2020 heimlich auf dem Delikatessenmarkt von Wuhan spazieren ging. Und die blieben drei Jahre lang unberücksichtigt, weil offenbar bislang niemand auf die Idee gekommen war, dass sie wichtig sein könnten. Ein Glück, dass die Putzfrau sie nicht in der Zwischenzeit entsorgt hat wie ein Kunstwerk von Joseph Beuys.
Der Steckbrief über den Marderhund
Der Fall erinnert an sogenannte Cold Cases in den USA, wo dank DNA-Spuren teilweise mehr als 50 Jahre nach einem Mord ein Täter ermittelt werden kann. Auf Englisch heißt unser Verdächtiger übrigens racoon dog. Der englische racoon ist der deutsche Waschbär. Waschbärhund also, ein Begriff, den es auch im Deutschen gibt.
Der Steckbrief über den Marderhund wurde am 16. März in dem amerikanischen Magazin The Atlantic veröffentlicht. Seit drei Jahren, so die Autoren, laufe die „Debatte über die Ursprünge der Coronavirus-Pandemie zwischen zwei großen Vorstellungen“ hin und her: dass SARS-CoV-2 direkt aus einer Wildtierquelle in die menschliche Bevölkerung gelangt oder dass der Erreger aus einem Labor ausgetreten sei. Viele Wissenschaftler hätten bislang „an der Vorstellung festgehalten, dass dieser Ausbruch – wie die meisten anderen – rein natürliche Ursachen“ gehabt habe. Doch dieser Hypothese habe ein entscheidender Beweis gefehlt: „genetische Beweise vom Huanan-Seafood-Großmarkt in Wuhan, China, die zeigen, dass das Virus dort zum Verkauf angebotene Tiere infiziert hatte“. Da in einer Marktwirtschaft die Nachfrage das Angebot erzeugt, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Nachfrage nach dem genetischen Beweis befriedigt werden würde.
Nun endlich, so die Journalisten von The Atlantic, habe ein „internationales Team von Virologen, Genomikern und Evolutionsbiologen möglicherweise endlich entscheidende Daten gefunden, die helfen, diese Wissenslücke zu schließen“. Eine „neue Analyse von Gensequenzen, die auf dem Markt gesammelt“ und nun mit nur drei Jahren Verspätung bekannt geworden sei, zeige, „dass Marderhunde, die dort illegal verkauft wurden, Ende 2019 das Virus in sich trugen und möglicherweise auch ausschieden“.
Die Frankfurter Rundschau schreibt, die genetischen Sequenzen seien „aus Abstrichen gewonnen worden, die zu Beginn der Pandemie an und in der Nähe von Marktständen genommen wurden“.
Ja, so muss es gewesen sein
„Quasi zufällig“, so die Zeitung, seien sie kürzlich entdeckt worden, wie alte Socken unter dem Sofa:
„Sie seien vor einigen Tagen von Forschern des chinesischen Zentrums für Seuchenkontrolle und -prävention (CDC) in die frei zugängliche Genomdatenbank GISAID eingestellt und dort von Wissenschaftlern in Europa, Nordamerika und Australien – quasi zufällig – entdeckt und analysiert worden.“
Ja, so muss es gewesen sein. Die brandneuen Erkenntnisse stammen von den Virologen Kristian Andersen, Edward Holmes und Michael Worobey. Andersen und Holmes waren wie Anthony Fauci und Christian Drosten Anfang Februar 2020 an einer Telefonkonferenz international führender Virologen beteiligt, die, wie die nachfolgende E-Mail-Kommunikation unter ihnen zeigte, einen Laborursprung des SARS-CoV-2-Virus für gut möglich hielten, aber aus Gründen des Selbstschutzes – die gefährliche gain-of-function-Forschung im Wuhan Institute of Virology fand unter maßgeblicher Beteiligung US-amerikanischer Wissenschaftler, Forschungsinstitute und Geldgeber statt – sich dazu verabredeten, der Weltöffentlichkeit zu versichern, das Virus sei mit hoher Wahrscheinlichkeit natürlichen Ursprungs.
The Atlantic berichtet, dass Andersen, Holmes und Worobey „etwa einen halben Tag nach dem Herunterladen der Daten“ von GISAID entdeckt hätten, dass „mehrere Proben von dem Markt, die positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden waren, auch jede Menge tierisches genetisches Material enthalten“ hätten. Vieles davon passe zum Marderhund.
„Aufgrund der Art und Weise, wie die Proben entnommen wurden, und weil Viren nicht von selbst in der Umwelt überleben können, gehen die Wissenschaftler davon aus, dass ihre Ergebnisse auf das Vorhandensein eines mit dem Coronavirus infizierten Marderhundes an den Stellen hinweisen könnten, an denen die Abstriche entnommen wurden.“
Christian Drosten: Auf den Marderhund gekommen
In der Krimiserie Columbo findet Inspektor Columbo meist schon zu Beginn einen Hinweis, der nicht in die Erzählung des Mörders passt. Das ist die Überleitung von „Es war ein Unfall oder Selbstmord“ zu den polizeilichen Ermittlungen in einem Mordfall. Wenn Columbo dann erzählt, dass er den Fall untersucht, stößt er in einem Gespräch oft auf jemanden, der vehement sagt: „Das war nie und nimmer Mord“ und der begeistert jeglicher alternativen Theorie über den Todesfall zustimmt, mag diese auch noch so hanebüchen sein. „Das vorläufige Ergebnis untermauert stark meine seit Beginn der Pandemie geäußerte Vermutung eines Ursprungs in Marderhunden oder anderen Carnivoren (Fleischfressern) wie zum Beispiel Schleichkatzen“, sagte Christian Drosten der Deutschen Presse-Agentur im Hinblick auf die chinesische Marderhund-Story.
Doch der Inspektor ist nicht überzeugt. Der frühere Direktor der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention), Robert Redfield, goss sofort Kontrolllösung auf die neue Hypothese. Von Reporten gefragt, ob sich seine Ansicht darüber, was der Ursprung der Seuche sei, geändert habe, antwortete er:
„Nein. Ich denke nicht, dass dies irgendetwas Neues gebracht hat. Erstens haben sie nicht gezeigt, dass die Marderhunde tatsächlich infiziert waren. Was sie gezeigt haben, war, dass sie die DNA von Marderhunden in denselben Proben haben wie die DNA des Coronavirus.“
Es sei auch gar „nicht ungewöhnlich“, dass Tiere ein Virus in sich trügen, ohne aber ein direkter Überträger zu sein. In den USA etwa sei ein „beträchtlicher Teil der Wildhirschpopulation mit Covid infiziert“. Auch von Hunden, Katzen und Nerzen sei bekannt, dass sie mit Covid infiziert sein könnten.
„Alles, was sie gezeigt haben, war, dass Nukleinsäure vom Marderhund auf demselben Wattestäbchen war wie Nukleinsäure von Covid. Der Hund kann infiziert gewesen sein oder er war bloß im gleichen Raum.“
Der Marderhund wäre dann einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. So wie jemand, der an einer Shisha-Bar vorbeiläuft, während dort gerade eine Familienfeier stattfindet.
Das andere Problem, das er mit der Enthüllung habe, so Redfield: Statt ihre Geschichte im Publikumsmagazin The Atlantic auszubreiten, hätten die Autoren sie in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlichen sollen, wo sie einem kritischen Peer-Review hätte unterworfen werden können. Er wolle die Menschen zudem daran erinnern, dass es „wirklich starke Beweise“ dafür gebe, dass die Pandemie nicht im Dezember 2019 oder Januar 2020 begann (wie die Vertreter der Wildtiermarkt-Hypothese glauben), sondern „im August, September oder Oktober“ 2019.
„Öffentlichkeit wird getäuscht“
Eine Gruppe hochrangiger Wissenschaftler – unter ihnen der renommierte amerikanische Molekularbiologe Richard Ebright von der Rutgers University, der bereits im Frühjahr 2020 zu der These eines Laborunfalls tendierte – hat in einem offenen Brief heftige Kritik an der Medienberichterstattung über die Marderhund-Hypothese geübt. Die Öffentlichkeit werde wieder einmal getäuscht:
„Wir sind der Meinung, dass diese Nachrichtenberichte zutiefst irreführend sind und korrigiert werden sollten. Wir glauben auch, dass die Berichte ein weiteres Beispiel dafür sind, dass eine kleine Gruppe von Forschern ihre Ergebnisse übertreibt und die Öffentlichkeit mit falscher Gewissheit über die Herkunft von COVID-19 in die Irre führt.“
Erstens, so die Kritik, seien die Daten, auf denen diese Behauptungen beruhten, anderen Forschern nicht zur Verfügung gestellt worden, um sie zu prüfen und unabhängig zu interpretieren. Vielmehr seien sie nur in einer „privaten Sitzung“ zwischen den Forschern und der WHO vorgestellt worden. Die Medien hätten daher „keine unabhängige Bestätigung“ dafür, dass die Daten stichhaltig seien und dass die Schlussfolgerungen der Forscher zutreffend sei. Zweitens lieferten die Daten „keine substanziellen neuen Informationen“ über den Ursprung von COVID-19, selbst wenn man sie für bare Münze nehme:
„Berichten zufolge handelt es sich bei den zentralen Daten um eine einzige SARS-CoV-2-positive Umweltprobe, die DNA von einem Marderhund enthält. Es gibt keinen Beweis dafür, dass dieser Marderhund die COVID-19-Pandemie ausgelöst hat. Tatsächlich gibt es nicht einmal einen Beweis dafür, dass dieser Marderhund überhaupt mit SARS-CoV-2 infiziert war, da sich in der Probe auch menschliche DNA befand und das virale Material ebenso gut von einem infizierten Menschen stammen könnte.“
Die Forscher hätten offenbar eine Probe von insgesamt 73 SARS-CoV-2-positiven Proben, die auf dem Markt von Wuhan gesammelt wurden, „herausgepickt“, „weil diese eine Probe die spezifische Darstellung unterstützt, die sie in früheren Veröffentlichungen vertreten haben“. Denn der oben genannte Kristian Andersen war nicht nur einer der Teilnehmer jener berüchtigten Telefonkonferenz, sondern im März 2020 auch Mitverfasser des Aufsatzes Proximal Origins of SARS-CoV-2 in der Zeitschrift Nature, der maßgeblich verantwortlich dafür war, die Vorstellung eines natürlichen Ursprungs von SARS-CoV-2 als der einzig legitimen Hypothese in die Köpfe von Wissenschaftlern, Politikern, Journalisten und somit der Weltöffentlichkeit zu hämmern.
Die Dürftigkeit der Daten
„Wir glauben“, so die Unterzeichner des Textes, „dass diese jüngste Episode ein bedauerliches Beispiel dafür ist, dass einflussreiche Medien eine spekulative Geschichte unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Erkenntnis verbreiten“. Die „Dürftigkeit der Daten, die der Öffentlichkeit verkauft werden“ zeigten, wie notwendig und dringend geboten eine „umfassende und forensische Untersuchung der Herkunft von COVID-19“ ist, einer Untersuchung, die „nicht nur wissenschaftliche Daten, sondern alle Instrumente der Nachrichtengewinnung und Strafverfolgung nutzt“. Die Öffentlichkeit verdiene „echte Antworten und keine falsche Gewissheit“.
Was nun?
Wie pedantisch. Warum soll denn nicht eine drei Jahre alte Genprobe, die die chinesischen Kommunisten jetzt ins Internet gestellt haben, damit Forscher, die stets ein Interesse daran hatten, die These eines Laborunfalls zu diskreditieren, sie dort „zufällig“ finden, den schlagenden Beweis eines natürlichen, marderhündlichen Ursprungs erbringen?
Was gibt es jetzt noch zu untersuchen? Oh, ich weiß es: Vielleicht sollte man auch bei Hirsch- und Wildschweinköpfen, die noch in einigen traditionsbewussten deutschen Haushalten im Westerwald und in der Eifel an den Wänden hängen, einen SARS-CoV-2-Antigen-Test machen. Wattestäbchen in Maul oder Nase – die Tiere halten ja zum Glück still –, dann das Wattestäbchen in die Kontrolllösung und drei Tropfen davon in die Testkassette. Wer weiß, welche bahnbrechenden Erkenntnisse über den Ursprung der Pandemie man 15 Minuten später haben wird. Und alle werden darüber berichten.
Quelle: Achgut.com
Bilder: Der Marderhund – Unsplash Cyrke Denyer
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