Exklusivinterview – Russlands Aussenminister Lawrow über die neue Weltordnung

Der russische Außenminister Lawrow hat ein großes Interview gegeben, aus dem ich Teile übersetzt habe.

In diesem Teil geht es um Frage der neuen Weltordnung nach dem aktuellen Konflikt.

Der russische Außenminister Lawrow hat ein über einstündiges Interview zu den aktuellen Themen der Weltpolitik und dem Ost-West-Konflikt gegeben.

Am Ende des Interviews wurde er danach gefragt, wie die Welt nach dem aktuellen Konflikt aussehen könnte. Ich habe die Fragen und Lawrows Antworten übersetzt.

Beginn der Übersetzung:

Frage: Jetzt ist es schwer vorstellbar, wie die Situation um die Ukraine gelöst werden könnte. Aber wir wissen aus der Geschichte, dass Konflikte entweder mit einer militärischen Eskalation und dem Sieg einer Seite enden, was schwer vorstellbar ist, oder sie dauern in der einen oder anderen Form sehr lange an und enden, nicht unbedingt mit einem formellen Frieden, aber mit der Errichtung einer neuen Weltordnung. Dafür gibt es viele Beispiele. Und die Weltordnung ist nicht unbedingt die, die sich die Konfliktparteien erhofft hatten.

Abgesehen von der Bedeutung der Ukraine und der Unzufriedenheit im Westen, vor allem in Washington, mit der unabhängigen Politik Russlands, hat man das Gefühl, dass wir bei der Entwicklung einer Weltordnung, die nicht nur geopolitisch, sondern auch kulturell und zivilisatorisch auf der Vorherrschaft des Westens beruht, in eine Sackgasse geraten sind.

Ich verstehe, dass das eine unfaire Frage ist, da Sie Außenminister sind und sich nicht an „freiem Schwimmen“ in Spekulationen über zivilisatorische Probleme beteiligen wollen, aber haben Sie das Gefühl, dass wir am Rande eines grundlegenden „Bruchs“ stehen, einer Rekonstruktion des gesamten internationalen politischen Systems?

Sergej Lawrow: Wenn wir über die Folgen und möglichen globalen Aspekte der Ukraine-Krise sprechen, ist das Wort „Bruch“ durchaus angebracht. Ich habe in meinen Reden mehrfach erwähnt, dass die Bildung einer neuen multipolaren Weltordnung  im Gange ist. Dieser Prozess wird nicht nur nicht schnell enden, sondern er wird eine ganze historische Epoche in Anspruch nehmen. Davon bin ich überzeugt.

Der Westen hat seine globale Position erheblich geschwächt, behält aber gleichzeitig einen bedeutenden Einfluss in den Bereichen Wirtschaft, Technologie und Militär. Diese relative Schwächung seiner Position versucht er zu kompensieren, indem er seine Aggressivität vor allem im militär-politischen Bereich drastisch erhöht und seine Konkurrenten mit illegitimen Methoden unterdrückt.

Es geht um die „Regeln“, auf die der Westen seine Weltordnung stützen will.

In Georgien ist Demonstranten alles erlaubt, in Moldawien nichts. Die Vergiftung iranischer Schulen muss zum Gegenstand einer internationalen Untersuchung gemacht werden, während die Explosion an der Nord-Stream-Pipeline nur Unsinn ist und nicht untersucht zu werden braucht.

Iranische Schiffe laufen einen brasilianischen Hafen an – das ist schlecht, aber souveräne Länder haben das Recht, ihre Partner zu wählen.

Warum sollte dieser Grundsatz nicht auch für die Beziehungen zwischen Indien, anderen Ländern und Russland gelten?

Das jüngste Beispiel:

Es gibt einen Politiker namens James Cleverly. Er ist zur Zeit Außenminister in Großbritannien. Neulich sagte er, dass die Falkland-Inseln zu Großbritannien gehören, weil die Bevölkerung sich dafür ausgesprochen hat. Haben sich die Bewohner der Krim nicht dafür ausgesprochen, wieder zu Russland zu gehören? Man kann sehr viele Beispiele anführen.

Deshalb fragen wir unsere amerikanischen, europäischen und britischen Kollegen:

Da sie überall „rules based world order“, also „regelbasierte Weltordnung“, schreiben, können wir uns die „Regeln“ ansehen? Das dürfen wir nicht. Wir dürfen auch nicht die Liste der Namen der Menschen sehen, deren Leichen am 3. April 2022 im Kiewer Vorort Butscha zur Schau gestellt wurden, wobei Russland beschuldigt wurde, dahinter zu stecken. Deswegen wurden sofort Sanktionen verhängt. Wir haben immer noch nicht wenigstens die Namen erfahren können. Niemand spricht von einer Untersuchung. Ebenso wenig gibt es eine Untersuchung des Verbrechens vom 2. Mai 2014 in Odessa, als 50 Menschen bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Es gibt Videoaufnahmen von denen, die das getan haben.

Niemand wird die Ergebnisse der Untersuchung – zumindest keine transparenten – zum Vorfall in Salisbury im Jahr 2018 und Dokumente zur Unterstützung der verkündeten „Vergiftung“ von Navalny im Jahr 2020 vorlegen.

Deutschland sagte, es könne sie nicht geben.

Es gab eine sehr interessante Erklärung. Als er in eine zivile Klinik gebracht wurde, hat man nichts gefunden, aber in der Militärklinik hat man es gefunden. Wir baten darum, die Analyse zu sehen. Die Deutschen antworteten, dass sie die nicht geben könnten, weil wir dann etwas über ihren Kenntnisstand auf dem Gebiet der biologischen Sicherheit erfahren würden.

Mit solchen Befehlen, Regeln, kann man, wie es in den letzten Tagen der Sowjetunion hieß, nicht leben.

Frage: Ich bin sicher, dass Moskau keine Eskalation will, sondern an einer vernünftigen Lösung des ukrainischen Problems interessiert ist, die auf den grundlegenden Interessen Russlands beruht. Liege ich richtig, dass, selbst wenn sich das als möglich erweist und geschieht, das keineswegs bedeutet, dass wir zur Welt nach dem Kalten Krieg zurückkehren und dass Russland auf einer grundlegend anderen Weltordnung besteht und darauf drängt?

Sergej Lawrow: Es gibt kein Zurück zum Alten. Auch der Westen sagt, dass „business as usual“ ausgeschlossen ist. Davon brauchen wir uns nicht überzeugen zu lassen. Wir haben längst alle Schlussfolgerungen für uns selbst gezogen. Die Geschichte zwischen den beiden Weltkriegen im letzten Jahrhundert hat die Welt nichts gelehrt. Wir, unsere Politiker, haben das Bündnis, das uns den Sieg über Hitler ermöglichte, nie in Frage gestellt, nicht einmal mit einem Wort oder einem Hinweis auf offizieller Ebene.

Es gab viele Studien, Wissenschaftler, Politiker und oppositionelle Schriftsteller, die schrieben, dass das Lend-Lease uns nicht viel geholfen hat, dass die zweite Front eröffnet wurde, als sie überzeugt waren, dass die Sowjetunion allein gewinnen würde.

Sie erinnerten daran, dass Frankreich und England noch vor dem Molotow-Ribbentrop-Pakt ein Nichtangriffsabkommen mit Hitler ausgehandelt hatten, um ihn nach Osten zu lenken, und vieles mehr.

Die Geschichtswissenschaft untersucht das. Aber wir haben nie, in keiner der Reden unserer führenden Politiker – einschließlich der des russischen Präsidenten in seiner Rede am 9. Mai auf dem Roten Platz -, einen Schatten des Zweifels an dem Bündnis zugelassen, das uns gegen Hitler zusammengeführt hat.

Unsere westlichen Kollegen haben lange vor den aktuellen Ereignissen in der Ukraine damit begonnen, genau dies auf offizieller Ebene zu tun, indem sie der Sowjetunion und Hitler gleichermaßen die Schuld gaben. Angeblich war der Molotow-Ribbentrop-Pakt der „Auslöser“ des Zweiten Weltkriegs.

Die Tatsache, dass Paris und London im Jahr zuvor das Gleiche mit Hitler vereinbart hatten, wird mit keinem Wort erwähnt. Das „Münchner Abkommen“, die Rolle Polens darin, ist tabu. Die Zweite Front ist in den Geschichtsbüchern seit langem als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs verzeichnet.

Als man in Amerika im Jahr 2020 den 75. Jahrestag des Sieges feierte, vielleicht haben Sie es gesehen, gab man eine Gedenkmünze heraus, die an den Sieg über den Faschismus erinnert. Auf ihr sind drei Flaggen eingraviert: die amerikanische, die britische und die französische Flagge. Es gibt keine sowjetische oder russische Flagge. Und es wird nicht einmal gesagt, dass außer den drei Ländern noch „irgendwer“ gegen Hitler gekämpft hat.

Das Gleiche kann ich über Deutschland sagen, lange vor den aktuellen Ereignissen. In unseren Gesprächen mit unseren deutschen Partnern auf verschiedenen Ebenen wurde folgende Botschaft sehr deutlich:

„Liebe Freunde, Deutschland hat längst für alles bezahlt. Wir sind niemandem mehr etwas schuldig.“

Wenn man jetzt alles im Nachhinein betrachtet, stellt man fest, dass es sich nicht nur um einzelne, isolierte Episoden handelt. Die Zerstörung von Denkmälern, Demonstrationen zu Ehren von Waffen-SS-Veteranen im Baltikum, unverhohlen neonazistische und nationalsozialistische Einheiten mit Nazi-Abzeichen in der Ukraine. Alle unsere Appelle, hinzuschauen, das zu verurteilen, ein Wiederaufleben des Faschismus zu verhindern, wurden völlig ignoriert. Die Schlussfolgerungen, die wir jetzt ziehen, müssen zwangsläufig auch die Version berücksichtigen, dass Europa den Nazismus wieder brauchte, entweder um ihn gegen uns zu wenden oder als Mittel zur Eindämmung Russlands und um zu verhindern, dass es eine unabhängige Kraft wird.

Ich weiß nicht, wie die neue Weltordnung aussehen wird.

Wir waren aufrichtige Unterzeichner der Dokumente, in denen die Grundsätze festgelegt wurden, an denen wir noch immer festhalten. Aber sie sind vom Westen mit Füßen getreten worden.

Es geht um die Unteilbarkeit der Sicherheit, um die Unannehmbarkeit von Versuchen, die eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer zu stärken, und um die Unannehmbarkeit einer Situation, in der ein Land oder eine Organisation den Anspruch erhebt, die internationale Bühne zu dominieren.

Das alles sind Dinge, die seit 1999 in der OSZE unterzeichnet wurden. Dann wurde darauf gespuckt, darauf herumgetrampelt und gesagt, es handele sich um eine „politische Verpflichtung“. Ja, aber sie wurden von Präsidenten, Kanzlern, Premierministern unterzeichnet.

Die Unteilbarkeit der Sicherheit ist gleichbedeutend mit einem Interessenausgleich, bei dem man sich darauf verständigen muss, wie man leben will, ohne dass man gezwungen ist, sich jeden Monat sagen zu lassen, mit wem man Handel treibt, ob man gegen irgendwelche Verbote verstoßen hat, in einem einheitlichen globalen Handelssystem zu arbeiten.

Warum wollen sie nun die Welthandelsorganisation reformieren?

Weil die Grundsätze, auf denen sie basierte und die vor allem von den Amerikanern, den Briten und ihren Verbündeten formuliert wurden, ihnen nicht mehr gefallen. China hat auf der Grundlage dieser Prinzipien viel mehr erreicht als der Westen. Es hat sie mit ihren Regeln besiegt. Jetzt wird die Arbeit der WTO blockiert. Die Amerikaner wenden diskriminierende Maßnahmen gegen chinesische Waren an.

China reicht beim Streitbeilegungsgremium vollkommen berechtigte Klagen ein.

Die Amerikaner haben dieses Gremium jahrelang nicht arbeiten lassen. Sie blockieren die Ernennung von Personen, die für ein Quorum erforderlich sind. So ein elementares „Kleinrowdytum“. Jetzt haben sie auf dem G20-Gipfel in Indien gefordert, das ist alles dokumentiert, die Welthandelsorganisation zu reformieren. Wer ist denn gegen eine Reform, wenn sie nicht funktioniert.

Wenn ich über die neue Weltordnung, die Architektur, spreche, höre ich Stimmen:

Was machen wir in der WTO? Siebzehn Jahre lang haben wir ihr mit Blut und Schweiß den Schutz unserer noch nicht sehr entwickelten Industrien, des Dienstleistungssektors, „abgefeilscht“.

Jetzt hat man uns gesagt, dass wir nach den WTO-Regeln das Recht haben, Handel zu treiben, zu verkaufen, zu kaufen, aber die Organisation hat eine Klausel, die besagt, dass ein Land, das eine Situation als Bedrohung seiner Sicherheit ansieht, alles tun kann, was es will. Daher ist es sinnlos, vor Gericht zu gehen.

Eine ähnliche Situation beurteilen wir mit unseren Kollegen aus den Regierungs-, Wirtschafts- und Finanzstrukturen im Hinblick auf die Bretton-Woods-Institutionen.

Auch dies ist eine „Schöpfung“ der USA.

Als wir nach dem Verschwinden der Sowjetunion über unseren künftigen Platz in der Welt nachdachten, bestand eine unserer Aufgaben darin, uns in die Struktur der zivilisierten Gesellschaft „einzufügen“. Jetzt hat sie, in Form des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, unsere Beiträge, unser Aktienkapital „eingefroren“. Unsere Versuche, zu verstehen, was damit zu tun ist, waren bisher nicht sehr erfolgreich.

Wir wären wahrscheinlich bereit, es für einen guten Zweck zur Verfügung zu stellen, zumal die Weltbank zahlreiche Programme zur Unterstützung der Entwicklungsländer durchführt. Aber in ihrem derzeitigen „eingefrorenen“ Zustand können die russischen Mittel bei der Weltbank nicht einmal für diesen Zweck verwendet werden. Von Fairness kann da keine Rede sein.

Beachten Sie die Äußerungen der chinesischen Führung ein Jahr nach Beginn der Militäroperation.

  • China ist für den Frieden.
  • Wir begrüßen seine Aufrufe zur Achtung der UN-Charta.
  • Wir vertreten die gleichen Positionen.
  • Wir legen die Charta nicht selektiv aus, sondern in ihrer Gesamtheit, einschließlich der Unzulässigkeit von Verstößen gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

In den letzten Jahren hat China begonnen, den Grundsatz der Unteilbarkeit der Sicherheit in der globalen Landschaft zu betonen.

Nicht nur in Europa, wie es 1999 proklamiert wurde. Ich denke, philosophisch gesehen deckt es sich absolut mit unserem Ansatz. Wir werden unsere Koordinierung auf der internationalen Bühne mit unseren chinesischen Freunden auf der Grundlage entwickeln, dass die Unteilbarkeit der Sicherheit in rechtsverbindlichen Dokumenten verankert werden sollte.

Im Prinzip gibt es ein solches Instrument.

Es ist die UN-Charta. In ihr ist die souveräne Gleichheit der Staaten verankert. Aber sie wird in der Praxis nur unzureichend umgesetzt.

In dieser Hinsicht müssen wir nicht nur sicherstellen, dass alle Länder zu den Ursprüngen zurückkehren, die in den Zielen und Grundsätzen der UN-Charta festgelegt sind, sondern auch dafür sorgen, dass die UN selbst, vertreten durch ihre Sekretariatsstrukturen, Sonderorganisationen, Fonds und Programme, die Realitäten einer multipolaren Welt widerspiegeln, anstatt in ihren Schritten und ihrer Arbeit übermäßig von der „goldenen Milliarde“, also der globalen Minderheit, beeinflusst zu werden.

Quelle: Anti-Spiegel.ru

Bilder: Lawrow Wikimedia

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