Während bis vor Kurzem im sich selbst als „linksliberal“ verortenden Milieu schon „Mikroaggressionen“
(also etwa die Frage „Woher kommst du?“ an einen dunkelhäutigen Menschen) und Nationalismus und Heldentum („toxische weiße Männer“) geradezu als die Inkarnation des Bösen angesehen wurden, kann es Vielen jetzt gar nicht patriotisch, heldenhaft, kriegerisch und feindselig genug sein. Außenministerin Annalena Baerbock etwa verkündet in Bezug auf die EU-Sanktionen:
„Das wird Russland ruinieren“. So also sieht feministische Außenpolitik aus.
Unser Autor Udo Brandes hat in diesem Zusammenhang eine Erfahrung gemacht, die ihn dazu inspirierte, mal über das Gut und Böse und das Richtig und Falsch in der Politik nachzudenken.
Vor einer Woche schickte ich im Freundes- und Bekanntenkreis einen Text von Holger Panhußen und Robert Roisch herum.
Der Text war in der Berliner Zeitung veröffentlicht worden (Den Link zum Artikel siehe am Ende dieses Textes). Beide Autoren beschäftigen sich seit Jahren mit Friedensforschung und Friedenspolitik. In ihrem sehr differenziert argumentierenden Text sprechen sie sich für eine Kapitulation der Ukraine aus. Zum einen, um das Leid der betroffenen Menschen zu beenden. Und zum anderen, um die Gefahr eines Atomkrieges, der womöglich die ganze Menschheit auslöscht, zu verhindern. Wie gesagt: Die Argumentation ist sehr differenziert und war aus meiner Sicht eigentlich unwiderlegbar. Ich bekam aber trotzdem von mehreren Seiten Widerspruch. Deshalb möchte ich in diesem Essay darlegen, warum aus meiner Sicht das (vermeintlich) moralisch Richtige oder Gute falsch sein kann.
Was sind die westlichen Werte wirklich wert?
Dieser Krieg von Putin ist ohne Wenn und Aber ein schweres Verbrechen. Wenn ich also eine Kapitulation der Ukraine für zumindest bedenkenswert halte, heißt das natürlich nicht, dass ich Putins Krieg gegen die Ukraine rechtfertigen will. Auch nicht mit dem Argument, dass die NATO eine aggressive Erweiterungspolitik betrieben hat. Denn auch dann darf man nicht einfach ein Land bombardieren und zerstören – und Menschen töten, die im Übrigen auch nicht verantwortlich sind für die Politik der NATO.
Zunächst einmal möchte ich auf die berühmten und bei jeder Gelegenheit beschworenen „westlichen Werte“ (Demokratie, Freiheit, Menschenrechte, Völkerrecht etc.) eingehen, die ja besonders gerne in solchen Krisensituationen als argumentative Rechtfertigung für politische Entscheidungen dienen. Was diese Werte in der politischen Realität wirklich wert sind, das konnten wir kürzlich in Katar beobachten, als der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck einen tiefen Bückling (im wahrsten Sinne des Wortes, also körperlich) vor dem Energieminister Katars machte: nichts.
Denn wenn der Grüne Robert Habeck seine angeblichen Werte (und die seiner Partei) wirklich ernst nähme, dürfte er niemals Geschäfte mit einem Land wie Katar einfädeln, in denen (um nur zwei Beispiele zu nennen) die Frauenrechte mit Füßen getreten werden und Homosexualität strafbar ist (Weitere Details siehe in Jens Bergers Text „Der grüne Bückling“). Denn nach dem Werteverständnis der Grünen sind Regime wie das in Katar „die Bösen“. Robert Habeck hat also durch sein politisches Handeln klar gemacht, dass Egon Bahr recht hatte, als er sagte: In der Politik zählen nur die Interessen (Originalzitat von Egon Bahr: „Wenn ein Politiker anfängt, über ‚Werte’ zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen.“). Und da macht man auch schon mal Geschäfte mit dem Belzebub. Willkommen in der Realität, liebe Grünen!
Im Übrigen wurden die Werte der „westlichen Wertegemeinschaft“ sowieso schon seit Jahren mit Füßen getreten, wenn es um Kriege und Verbrechen der USA ging. Da galt schon lange ein moralischer Doppelstandard: Was bei dem einen ein Verbrechen ist, ist bei dem anderen legitime Politik.
Mephistos Satz gilt auch umgekehrt
Jetzt zur Frage, ob die Ukraine nicht lieber kapitulieren sollte. Oder ob wir die Ukraine nicht noch weitreichender mit Waffenlieferungen unterstützen sollten. (Die zweite Frage hat die Bundesregierung bereits mit Ja beantwortet.) Von der Mehrheit der Bevölkerung wird diese Frage, so mein Eindruck, ebenfalls mit Ja beantwortet und als das moralisch Richtige angesehen. Waffenlieferungen in einen laufenden Krieg an die „Guten“ (die Verteidiger bzw. Angegriffenen) sind meines Erachtens aber nicht eindeutig moralisch einzuordnen. Aber ich will das jetzt mal für ein Gedankenexperiment unterstellen, weil es so viele glauben, und fragen: Ist es das moralisch Richtige (in diesem Fall Waffenlieferungen an die Ukraine oder eine noch weitergehende militärische Unterstützung) auch notwendigerweise politisch richtig und sinnvoll?
Diese Frage will ich zunächst allgemein in Bezug auf das Handeln in schwierigen Situationen beantworten: Können oder sollten Politiker immer das moralisch Richtige, Gute oder Gerechte tun? Für meine Antwort werde ich zwei Klassiker der politischen Philosophie heranziehen, Max Weber und Niccolò Machiavelli. Aber beginnen möchte ich mit einem Zitat aus Goethes Faust. Er lässt dort Mephisto (also den Teufel) sagen:
„(Ich bin) ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft.“
Diesen Satz kann man auch umdrehen:
„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will, und stets das Böse schafft.“
Genau dies gilt es nach dem deutschen Soziologen Max Weber (1864–1920) zu bedenken. Er unterschied in der Politik zwischen Gesinnungsethik (stets an seinen moralischen Prinzipien festhalten und das moralisch Richtige oder Gerechte tun) und Verantwortungsethik (man bedenke die Folgen):
„Wir müssen uns klar machen, dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein. Nicht dass Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter gesinnungsethischer Maxime handelt – religiös geredet: ‚der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘, oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die Folgen seines Handelns aufzukommen hat“ (Max Weber, Politik als Beruf).
Die Flamme der reinen Gesinnung soll nicht erlöschen
Weber führt dann aus, und das erinnert sehr an heutige Diskussionen, dass der Gesinungsethiker nicht bereit sei, die womöglich üblen Folgen seiner Handlung durch seine Handlung verursacht zu sehen, sondern die Welt, Gott oder die Dummheit der Menschen dafür verantwortlich mache. Und kommt zu dem Schluss:
„’Verantwortlich‘ fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen Gesinnung (…) nicht erlischt. Sie stets neu anzufachen, ist der Zweck seiner, vom möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen Taten, die nur exemplarischen Wert haben können und sollen. (…) Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung ‚guter‘ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge ‚heiligt‘.“
In eine ähnliche Richtung zielen die Gedanken des Florentiner Diplomaten, Philosophen und Schriftstellers Niccolò Machiavelli (1469–1527). Er schrieb in seiner berühmten Schrift „Der Fürst“:
“Da es aber meine Absicht ist, für den, der es versteht, etwas Nützliches zu schreiben, so schien es mir wichtiger, die Wahrheit nachzuprüfen, wie sie wirklich ist, als den Hirngespinsten jener Leute zu folgen. Viele haben sich Republiken und Fürstentümer ausgedacht, die niemals gesehen worden, noch als wirklich bekannt gewesen sind. Denn die Art, wie man lebt, ist so verschieden von der Art, wie man leben sollte, dass, wer sich nach dieser richtet, statt nach jener, sich eher ins Verderben stürzt, als für seine Erhaltung sorgt; denn ein Mensch, der in allen Dingen nur das Gute tun will, muss unter so vielen, die das Schlechte tun, notwendig zugrunde gehen. Daher muss ein Fürst, der sich behaupten will, imstande sein, schlecht zu handeln, wenn die Notwendigkeit es erfordert”
(Quelle: XV. Kapitel: Wodurch die Menschen, insbesondere die Fürsten, Lob und Tadel erwerben, S. 77-79).
Eine Außenministerin wie ein Elefant im Porzellanladen
Nun geht es hier nicht um die Frage, wie die Regierung sich behauptet. Vielmehr ist der Grundgedanke Machiavellis entscheidend; und dieser ist dem Weber’schen Gedankengang ganz ähnlich: Eine Regierung kann nicht stets moralisch „gut“ oder „gerecht“ handeln, sondern muss die Folgen bedenken.
Und wer stets „gut“ handelt, könnte am Ende im allerschlimmsten Übel enden. (Wie gesagt: Für das gedankliche Experiment unterstelle ich, obwohl dies in der Realität natürlich keineswegs ethisch so eindeutig ist, dass Waffenlieferungen an die Ukraine oder gar noch weitergehende militärische Unterstützungen das moralisch „Richtige“, weil „Gerechte“ wäre. Ich selber denke nicht so. Aber viele sehen dies offenbar so.) Dieses Übel wäre konkret ein Dritter Weltkrieg und/oder ein atomarer Krieg – und die Auslöschung der Menschheit.
Die Autoren des Artikels in der Berliner Zeitung schrieben deshalb ganz zu Recht, dass es hier um zwei Alternativen zwischen „schlecht“ und ebenfalls „schlecht“ geht. Bei einer Kapitulation könnte Putin sich als Sieger fühlen und gelernt haben: Ich kann alles kriegen und machen, was ich will. Im Falle einer Eskalation könnte die ganze Menschheit ausgelöscht werden. Deshalb ist meine Position: Jetzt darf man auf keinen Fall gesinnungsethisch handeln, sondern muss mit kühlem Kopf kalkulieren und darf sich nicht an Prinzipien klammern. Denn es geht um existentielle Interessen, wie sie existentieller nicht sein könnten.
Deshalb müssen wir von unseren Politikern auch erstens erwarten können, dass sie sich nicht einfach feindseligen Gefühlen hingeben – wie Annalena Baerbock, die als Außenministerin unseres Landes mit ihrem Satz „Das wird Russland ruinieren“ ihre Vernichtungsphantasien offenbarte.
Und zweitens, dass Politiker ein Gefühl dafür haben, was man als Minister in einer solchen Situation öffentlich sagen kann und was nicht. Sowie drittens, dass Politiker über eine gewisse Sprachkompetenz verfügen, die sie befähigt, sich sehr nuanciert in Bezug auf einen solchen Konflikt zu äußern.
Leider hat die derzeitige Amtsinhaberin, Annalena Baerbock, nichts davon und wird deshalb noch öfter den Elefanten im Porzellanladen geben. Allerdings ist sie nicht die Einzige. Teile unserer politischen „Elite“ platzen ja geradezu vor Groß- und Allmachtsphantasien. Und genau das kann uns ins Verderben führen. Auch dazu sagt Machiavelli in seinen „Discorsi“ (ein weiteres Werk von ihm) geradezu Prophetisches:
„Das Volk, getäuscht durch den falschen Schein des Guten, begehrt oft sein Verderben und lässt sich leicht durch große Hoffnungen und übertriebene Versprechungen verführen. (…) Verspricht ein Vorschlag, der dem Volk gemacht wird, scheinbar Gewinn, wenngleich er sich tatsächlich verlustreich auswirkt, und erscheint ein Vorschlag mutig, wenngleich er zum Untergang des Staates führt, so wird es immer leicht sein, die Masse zur Annahme zu überreden.
Dagegen wird es immer schwer sein, sie zu solchen Entschlüssen zu überreden, die nach außen feige und verlustbringend erscheinen, obgleich sie in Wirklichkeit Heil und Gewinn bringen“ (Niccolò Machiavelli: Discorsi, Gedanken über Politik und Staatsführung, Erstes Buch, 53. Kapitel).
Zum Schluss noch eine Anmerkung: Der schon verstorbene Berliner Politologe Ekkehart Krippendorff hat in seinem Buch „Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft“ Folgendes geschrieben:
„Die Kriegsursachenforschung (…) selbst steckt noch in ihren Kinderschuhen, ist erst wenige Jahre, allenfalls Jahrzehnte alt (das Buch erschien bereits 1985; UB). Immerhin: einige Antworten kann sie geben und hat sie gegeben – z. B. die, dass Rüstungswettläufe mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von 82% zu Kriegen führen (…), oder die andere, dass Verteidigungs- und Militärbündnisse statistisch nachweisbar kriegsfördernde Wirkungen haben; auf die Praxis derer, die für die sogenannte Außen- und Sicherheitspolitik zuständig sind, hat das offensichtlich keinen Eindruck gemacht. Können Argumente sie überhaupt erreichen und beeindrucken?“ (Krippendorff, S. 9).
Ich befürchte: nein. Und hoffe, dass ich nicht recht habe.
Quelle: nachdenkseiten.de
Bild: rishabh-dharmani-unsplash
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